Die Richtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, die einen weiten Bereich beruflicher
Tätigkeiten erfasst, legt einen allgemeinen Rahmen für die Bekämpfung der Diskriminierung u. a. wegen der
sexuellen Ausrichtung fest, wie der EUGH (C-356/21) klargestellt hat.
Sachverhalt
Zwischen 2010 und 2017 erstellte ein Selbständiger audiovisuelle Montagen, Trailer und Feuilletons für die Sendungen zur Eigenwerbung von TP, einer Gesellschaft, die einen nationalen öffentlichen Fernsehsender in Polen betreibt. Diese Zusammenarbeit beruhte auf einer Reihe aufeinander folgender Dienstverträge mit kurzer Laufzeit, die der Selbständige im Rahmen seiner selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit mit TP geschlossen hatte.
Im Dezember 2017 veröffentlichten der Selbständige und sein Lebensgefährte auf YouTube ein Weihnachtsmusikvideo, das für Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Paaren wirbt. Kurz nach der Veröffentlichung dieses Videos wurden die Dienstzeiten des Selbständigen einseitig von TP gestrichen, und in der
Folge wurde mit ihm kein neuer Dienstvertrag geschlossen.
Der Selbständige war der Auffassung, Opfer einer unmittelbaren Diskriminierung wegen seiner sexuellen Ausrichtung geworden zu sein, und erhob beim Rayongericht für die Hauptstadt Warschau (Polen) eine Schadensersatzklage.
Rechtliche Fragen
Dieses Gericht möchte zum einen wissen, ob die im Ausgangsverfahren fragliche Situation in
den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf fällt.
Zum anderen möchte das nationale Gericht wissen, ob diese Richtlinie einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach
die auf die sexuelle Ausrichtung einer Person gestützte Weigerung, mit einem Selbständigen einen Vertrag abzuschließen oder diesen zu verlängern, auf der Grundlage der freien Wahl des Vertragspartners von dem nach dieser Richtlinie zu gewährenden Schutz vor Diskriminierungen ausgeschlossen wird.
Entscheidung des EUGH
Mit seinem heutigen Urteil entscheidet der Gerichtshof, dass die Wendung „Bedingungen … für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit“, die die unter den Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78 fallenden beruflichen Tätigkeiten beschreibt, weit zu verstehen ist und unabhängig von deren Art und Merkmalen den Zugang zu jeglicher beruflichen Tätigkeit erfasst.
Dieses Verständnis beruht nicht nur auf dem Wortlaut der Richtlinie 2000/78, sondern wird auch durch ihre Ziele bestätigt. Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass der Zweck der Richtlinie 2000/78 darin besteht, aus im sozialen und öffentlichen Interesse liegenden Gründen alle auf Diskriminierungsgründe gestützten Hindernisse für den Zugang zu Mitteln zur Sicherung des
Lebensunterhalts und die Fähigkeit, durch Arbeit, egal auf welcher Rechtsgrundlage, einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, zu beseitigen.
Da jedoch die Tätigkeiten, die in der bloßen Lieferung von Gütern bzw. Erbringung von Dienstleistungen an einen oder mehrere Empfänger bestehen, nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fallen, kommt es darauf an, dass es sich bei den beruflichen Tätigkeiten, die in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 fallen, um tatsächliche Tätigkeiten handelt, die im Rahmen einer durch eine gewisse Stabilität gekennzeichneten Rechtsbeziehung ausgeübt werden. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die fragliche Tätigkeit dieses Kriterium erfüllt.
Des Weiteren stellt der Gerichtshof zur Wendung „Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der
Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 fest, dass auch diese weit ausgelegt werden muss und die Bedingungen erfasst, die für jede Form einer unselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit gelten, egal auf welcher Rechtsgrundlage diese Tätigkeit ausgeübt wird.
Ferner räumt der Gerichtshof zum Begriff „Entlassung“ ein, dass auch eine Person, die einer selbständigen Erwerbstätigkeit
nachgegangen ist, sich durch Veranlassung ihres Vertragspartners gezwungen sehen kann, diese Tätigkeit
aufzugeben, und sich folglich in einer schwierigen Situation befinden kann, die mit der eines entlassenen Arbeitnehmers vergleichbar ist. Der Gerichtshof stellt, vorbehaltlich der Beurteilung durch das vorlegende Gericht, fest, dass die Entscheidung, den Vertrag wegen der sexuellen Ausrichtung des Vertragspartners nicht zu verlängern, in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 fällt.
Sollte das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis gelangen, dass eine Diskriminierung vorliegt, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass diese nicht mit einer der in Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78 genannten Ausnahmen, die eine Abweichung vom Grundsatz des Verbots von Diskriminierungen begründen, gerechtfertigt werden kann.
Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass die polnische Regelung zwar die Rechte und Freiheiten anderer, genauer gesagt die Vertragsfreiheit, zu schütze scheint, jedoch nicht notwendig ist, um die Vertragsfreiheit zu garantieren.
Nach den Ausführungen des Gerichtshofs zeigt der Umstand, dass der polnische Gesetzgeber eine Reihe von
Ausnahmen von der freien Wahl eines Vertragspartners vorsieht, dass er selbst angenommen hat, dass eine Diskriminierung nicht als notwendig betrachtet werden kann, um in einer demokratischen Gesellschaft Vertragsfreiheit zu garantieren. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass, wenn man zuließe, dass die Vertragsfreiheit es erlaubt, den Abschluss eines Vertrags mit einer Person wegen ihrer sexuellen Ausrichtung abzulehnen, dies der Richtlinie 2000/78 und dem Verbot jeder Diskriminierung wegen eines solchen Grundes ihre praktische Wirksamkeit nähme. (Quelle: Pressemitteilung des Gerichts)
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