BVerfG: Keine Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen

Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (2 BvR 900/22) betont, dass das in Art. 103 Abs. 3 GG verankerte Recht nicht nur ein Verbot der Mehrfachbestrafung, sondern auch ein Verbot der Mehrfachverfolgung umfasst. Dieses schützt sowohl den Verurteilten als auch den Freigesprochenen vor erneuter Strafverfolgung. Dieses Verbot hat Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit und begrenzt damit den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Regelung der Wiederaufnahme des Verfahrens.

Art. 103 Abs. 3 GG gewährleistet einen eng gefassten Vertrauensschutz auf rechtskräftige Entscheidungen, indem er Schutz vor einer erneuten Strafverfolgung nach den allgemeinen Strafgesetzen gewährt, wenn bereits eine rechtskräftige Verurteilung durch ein deutsches Gericht vorliegt:

Der in Art. 103 Abs. 3 GG verankerte Grundsatz ne bis in idem ist strafrechtshistorisch eng mit der Unschuldsvermutung verknüpft (vgl. Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 103 Rn. 176 f. und 231; Nolte, in: Merten/Papier, HGR, Bd. V, 2013, § 135 Rn. 4 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 1). Er versteht sich als in der Aufklärung wiedergewonnenes Gegenprinzip zum Inquisitionsprozess des gemeinen Rechts (vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 1).

Dieser war von einem absoluten Wahrheitsanspruch einerseits und der bloßen Inquisitenstellung des Einzelnen andererseits geprägt. Dies zeigte sich insbesondere in der verfahrensrechtlichen Möglichkeit der absolutio ab instantia, die lediglich eine vorläufige des Verfahrens bedeutete und grundsätzlich bei neuen Erkenntnissen die jederzeitige Wiederaufnahme erlaubte. Demgegenüber bestand eine zentrale Bedeutung des Anklageprozesses darin, die prinzipielle Unendlichkeit des gemeinrechtlichen Inquisitionsgrundsatzes abzulösen und ein Strafverfahren unbedingt zum Abschluss zu bringen. Gerade bei Unerweislichkeit der Schuld sollte der Strafprozess nicht nur vorläufig eingestellt, sondern dauerhaft abgeschlossen werden.

Der Freispruch erhielt materiellen Gehalt, indem er „bestätigte“, dass die den Prozess leitende Unschuldsvermutung nicht widerlegt wurde. Der Grundsatz ne bis in idem zielt daher insbesondere auf den Schutz des – aus Mangel an Beweisen – Freigesprochenen ab. Er sichert die vom Rechtsstaat getroffene „Fundamentalentscheidung“ (vgl. Leitmeier, StV 2021, S. 341 <343>), bei nicht behebbaren Zweifeln an der Schuld nach dem Grundsatz in dubio pro reo zu verfahren und dabei zugunsten des tatsächlich Unschuldigen in Kauf zu nehmen, sich auch – zugunsten eines tatsächlich Schuldigen – irren zu können (vgl. Leitmeier, StV 2021, S. 341 <343>; Swoboda, HRRS 2009, S. 188 <196 f.>). Deshalb ist in der strafrechtlichen Praxis der Grundsatz ne bis in idem stets auch auf Freisprüche bezogen worden (vgl. BGHSt 5, 323 <330>; 38, 37 <42 f.>; BGH, NStZ-RR 2004, S. 238 <240>; NStZ-RR 2016, S. 47 <49>).

Das Verbot der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens gilt jedoch nicht absolut; es schließt eine Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel nicht generell aus. Freigesprochene können darauf vertrauen, dass die Rechtskraft ihres Urteils nur nach Maßgabe der zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft geltenden Rechtslage beseitigt werden kann. Der Grundsatz „ne bis in idem“ schützt dieses Vertrauen und ist durch Art. 103 Abs. 3 GG auf Verfassungsebene gehoben.


Technischer Fortschritt ist Teil des Systems

Insbesondere der Verweis auf die fortlaufende Verbesserung der Ermittlungsmethoden stellt die Rechtsstaatlichkeit früherer Strafverfolgung aus Sicht des BVerfG nicht infrage:

Wird die Aufklärung ungelöster Fälle mithilfe früher nicht verfügbarer Erkenntnismittel möglich, bestätigt dies vielmehr die rechtsstaatliche Unbedenklichkeit der früheren, wenn auch in der Sache unvollständigen Ergebnisse. Technischen Fortschritt unterstellt, kann eine spätere und daher mit moderneren Methoden geführte Aufklärung die Chance besserer Erkenntnisse in sich tragen. Sie kann aber auch durch den Umstand belastet sein, dass nicht alle für das zuerst geführte Verfahren relevanten Beweismittel auch im zweiten Verfahren noch zur Verfügung stehen oder ebenso ertragreich sind, wie sie es im ersten Verfahren waren. Dem steht indes das weit gewichtigere Ziel zeitnaher Aufklärung und Verurteilung von Straftaten gegenüber. Letzteres liegt nicht nur im Interesse des Angeklagten und der Allgemeinheit, sondern insbesondere auch der Opfer und ihrer Angehörigen (…)

Ein Strafprozess, der wegen des grundsätzlich stets möglichen Auftauchens neuer Tatsachen oder Beweismittel faktisch nie ende, würde für die Opfer beziehungsweise für ihre Hinterbliebenen eine erhebliche seelische Belastung darstellen, die das Bedürfnis an einer inhaltlich richtigen Aufklärung und Urteilsfindung immer weiter zurücktreten lasse, je mehr Zeit nach der Tat verstrichen sei.


Anspruch an Strafverfahren: Materielle vs. prozessuale Wahrheit

Das hat dabei festgestellt, dass es im Strafverfahren eben nicht immer um die absolute Ermittlung der Wahrheit geht. Es hat betont, dass das Strafrecht keine Erforschung der Wahrheit „um jeden Preis“ erfordert. Vielmehr ist das Ziel des Strafverfahrens die Ermittlung des wahren Sachverhalts, jedoch unter Berücksichtigung anderer Verfassungsgüter und Rechtsprinzipien. Das Gericht hat auch darauf hingewiesen, dass die Rechtskraft von gerichtlichen Entscheidungen den dauerhaften Geltungsanspruch sichert und fortwährende Zweifel an der Richtigkeit des Urteilsspruchs vermeidet:

Daneben dient die Rechtskraft einer Entscheidung auch dem Rechtsfrieden (vgl. BVerfGE 2, 380 <403>; 56, 22 <31>; 115, 51 <62>). Es besteht ein vom Einzelnen unabhängiges Bedürfnis der Gesellschaft an einer endgültigen Feststellung der Rechtslage (vgl. Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, 2015, S. 346 ff. m.w.N.). Daher hat sich die moderne rechtsstaatliche Ordnung gegen die Erreichung des Ideals absoluter Wahrheit und für die in einem rechtsförmigen Verfahren festzustellende, stets nur relative Wahrheit entschieden. Auch das Strafrecht gebietet keine Erforschung der Wahrheit „um jeden Preis“ (vgl. BGHSt 14, 358 <365>; 31, 304 <309>).

Insoweit sichert die Rechtskraft den dauerhaften Geltungsanspruch gerichtlicher Entscheidungen. Rechtsmittel tragen dem Umstand Rechnung, dass jede Entscheidung fehlerhaft und daher korrekturbedürftig sein kann; sie erhöhen damit die Richtigkeitsgewähr. Die Möglichkeit, ein Verfahren durch Rechtsmittel unaufhörlich weiterzuführen, beziehungsweise die Möglichkeit der Wiederaufnahme, es von Neuem zu beginnen, würde jedoch fortwährende Zweifel an der Richtigkeit des Urteilsspruchs zulassen und damit das Vertrauen in die Effektivität der Streitentscheidung durch die Rechtsprechung beeinträchtigen.


Gefüge der Justizgrundrechte

Das BVerfG stellt eine systematische Betrachtung des Art. 103 Abs. 3 GG an, um diesen als „abwägungsfest“ zu qualifizieren: Art. 103 Abs. 3 GG stellt nach Auffassung des BVerfG eine besondere Ausprägung des im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Vertrauensschutzes dar, die ausschließlich für Strafverfahren gilt.

Als Sonderregelung mit eigenständigem Gehalt geht Art. 103 Abs. 3 GG in seinem Schutzgehalt über die allgemeinen Grundsätze hinaus, die ihrerseits bereits das Vertrauen in eine rechtskräftige Entscheidung schützen und eine übermäßige Beeinträchtigung der Interessen des Einzelnen verhindern. Dieser weitergehende Vertrauensschutz beruht auf dem unbedingten Vorrang gegenüber grundsätzlich berechtigten Korrekturinteressen, die der Gesetzgeber ansonsten wie in anderen Sachbereichen auch berücksichtigen könnte. Das BVerfG nimmt damit eine Abstufung und Einordnung der Bedeutung der einzelnen Justizgrundrechte im Strafverfahren vor:

Art. 103 Abs. 3 GG korrespondiert in Bezug auf diese Unbedingtheit mit Art. 103 Abs. 2 GG. Auch diese Norm stellt eine auf das Strafrecht beschränkte Sonderregelung zu allgemeinen verfassungsrechtlichen Prinzipien dar. Als Spezialfall des allgemeinen Rückwirkungsverbots und anders als dieses verbietet Art. 103 Abs. 2 GG dem Strafgesetzgeber ausnahmslos, rückwirkende Strafgesetze zu erlassen.

Dieses besondere Rückwirkungsverbot wirkt somit absolut und ist einer Abwägung nicht zugänglich (…). Ein gleichlaufendes Verständnis des Art. 103 Abs. 3 GG als abwägungsfestes Recht komplementiert diesen materiell-rechtlichen Schutz des Einzelnen im Bereich des Strafrechts auf der verfahrensrechtlichen Ebene.

Art. 103 Abs. 2 und 3 GG stehen den Freiheitsrechten nahe, die nicht nur innerhalb eines Strafverfahrens zu beachten sind, sondern den Grundrechtsträger bereits vor einem Strafverfahren schützen, ohne dass es zur Verwirklichung dieses Schutzes noch einer gesetzlichen Umsetzung bedürfte. Darin unterscheiden sich Art. 103 Abs. 2 und 3 GG von den Rechten, die – wie beispielsweise Art. 103 Abs. 1 GG – auf die Gewährleistung von Rechtsschutz gerichtet sind. Der für alle Verfahrensarten geltende Anspruch auf rechtliches Gehör bedarf einer verfahrensrechtlichen Ausgestaltung durch den Gesetzgeber (…)

Entsprechendes gilt auch für andere in der Verfassung wurzelnde Rechte im Strafverfahren, die im Gegensatz zu Art. 103 Abs. 3 GG keine ausdrückliche Verankerung im erfahren haben.

Dies sind namentlich die Unschuldsvermutung (…) und das Recht auf ein faires Verfahren (…) einschließlich seiner Bestandteile wie dem Grundsatz nemo tenetur (…), der Beweisregel in dubio pro reo (…) und dem Grundsatz der Waffengleichheit (…).

Sie sichern die Subjektstellung des Beschuldigten während des Verfahrens und sind damit naturgemäß in ihrer Reichweite von der Ausgestaltung des Verfahrens selbst abhängig. Deshalb enthalten sie keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- und Verbote, sondern bedürfen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das Verfahrensrecht der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten, vornehmlich durch den Gesetzgeber (…). Demgegenüber will Art. 103 Abs. 3 GG nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens verhindern, dass der Betroffene erneut mit einem solchen Verfahren belastet und in die Rolle des Beschuldigten zurückversetzt wird.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften. Dabei bin ich fortgebildet in Krisenkommunikation und Compliance.

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