In einem aufsehenerregenden Urteil vom 10. Januar 2024 (III ZR 57/23) hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, dass die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) nicht haftbar gemacht werden kann für die Verluste, die Anleger durch den Zusammenbruch von Wirecard erlitten haben. Dieses Urteil markiert einen bedeutenden Punkt in der juristischen Aufarbeitung des Wirecard-Skandals.
Sachverhalt
Der Kläger forderte Schadensersatz von der BaFin, argumentierend, dass diese ihre Aufsichtspflichten verletzt habe und somit mitverantwortlich sei für die erlittenen Verluste beim Kauf von Wirecard-Aktien. Trotz mehrfacher Medienberichte über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard und verzögerter Jahresabschlüsse blieb eine effektive Prüfung durch die BaFin aus. Der Kläger und seine Ehefrau hatten Wirecard-Aktien im Januar 2020 gekauft und erlitten schwere Verluste, als die Aktien kurz nach dem Bekanntwerden der Bilanzfälschungen im Juni 2020 abstürzten.
Rechtliche Analyse
Der BGH urteilte, dass die Maßnahmen der BaFin in Bezug auf die Marktmissbrauchsüberwachung und Bilanzkontrolle von Wirecard zwischen April 2015 und Juni 2020 vertretbar waren. Das Gericht führte aus, dass die Aufsichtsbehörde innerhalb ihres Beurteilungsspielraums gehandelt habe und ihre Entscheidungen zur Nichtintervention bei der Bilanzprüfung rechtlich nicht zu beanstanden seien. Diese Entscheidung betont, dass die Aufsichtsbehörde zwar eine Überwachungsfunktion hat, jedoch nur innerhalb der gesetzlichen und faktischen Grenzen ihrer Befugnisse agieren kann. Dabei spielen Ermittlungen auch nur bedingt eine Rolle:
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats, dass staatsanwaltschaftliche Handlungen, bei denen ein Beurteilungsspielraum des Entscheidungsträgers besteht (z.B. Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, Erhebung der öffentlichen Klage, Beantragung eines Haftbefehls oder einer Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung), im Amtshaftungsprozess nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit zu prüfen sind. Letztere darf nur dann verneint werden, wenn bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege die betreffende Entscheidung nicht mehr verständlich ist (vgl. Senat, Urteil vom 15. Dezember 2016 – III ZR 387/14, BGHZ 213, 200 Rn. 14, 17; BeckOGK/Thomas, BGB, § 839 Rn. 160 ff [Stand: 1. August 2023]; jew. mwN).
Schlussfolgerungen
Dieses Urteil verdeutlicht die komplexe Natur der Aufsichtspflichten finanzieller Regulierungsbehörden und die Herausforderungen, die mit der Überwachung von global agierenden Finanzunternehmen wie Wirecard verbunden sind. Es stellt klar, dass die BaFin nicht für das betrügerische Verhalten von Wirecard haftbar gemacht werden kann, solange sie im Rahmen ihrer gesetzlichen Befugnisse und nach vertretbarem Ermessen gehandelt hat.
Auswirkungen für die Praxis
Für Investoren und den Finanzmarkt bedeutet dieses Urteil, dass die Verantwortung für die Überprüfung von Unternehmensinformationen nicht allein bei den Aufsichtsbehörden liegt. Investoren müssen sich auch auf ihre eigenen Due-Diligence-Prüfungen verlassen. Für Regulierungsbehörden unterstreicht dieses Urteil die Notwendigkeit, ihre Aufsichtspraktiken kontinuierlich zu evaluieren und anzupassen, um auf Herausforderungen in einem dynamischen Marktumfeld effektiv reagieren zu können.
Fazit
Der BGH hat mit seinem Urteil eine wichtige rechtliche Wegweisung im Umgang mit der Haftung von Aufsichtsbehörden bei Unternehmensskandalen gegeben. Die Entscheidung trägt dazu bei, die Grenzen der Verantwortlichkeit von Regulierungsbehörden im Kontext von Marktüberwachung und Bilanzkontrolle zu klären.
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