Vergessen ist nicht gleich gelöscht: Verwertbarkeit getilgter Vorstrafen in der Gefährlichkeitsprognose

Mit Beschluss vom 3. Dezember 2024 (Az. 5 StR 443/24) hat der eine bedeutsame Entscheidung zur strafrechtlichen Gefährlichkeitsprognose gefällt, die sich mit dem Spannungsfeld zwischen und öffentlichem Schutzauftrag befasst.

Der Fall wirft die Frage auf, ob ein früherer, formal getilgter Gewaltdelikt-Vorfall in einem Gutachten zur Schuldfähigkeit und zukünftigen Gefährlichkeit eines Angeklagten verwertet werden darf. Der Senat bejaht dies – unter Rückgriff auf gesetzliche Ausnahmen im Bundeszentralregistergesetz – und positioniert sich damit klar zugunsten einer umfassenden Anamnese bei forensischen Begutachtungen.

Der Fall: Rückgriff auf eine Jugendtat von 2017

Im zugrunde liegenden Strafverfahren war der Angeklagte wegen gefährlicher und weiterer Delikte verurteilt worden. Im Rahmen der und vor allem bei der Entscheidung über die in einer psychiatrischen Einrichtung hatte das Landgericht Kiel auf ein bereits im Jahr 2017 begangenes, längst getilgtes Gewaltdelikt Bezug genommen – einen Angriff auf einen Mitschüler. Dieser Vorfall wurde durch eine Sachverständige im Zusammenhang mit der Feststellung einer anhaltenden schizophrenen Störung und einer Neigung zur Gewaltanwendung eingeordnet, welche die Gefahr zukünftiger Gewaltdelikte erhöhe.

Die Revision rügte die Verwertung dieser längst getilgten Vorstrafe. Der BGH wies den Einwand zurück und lieferte eine detaillierte Begründung, warum unter bestimmten Voraussetzungen selbst „gelöschte“ Taten rechtlich weiterhin relevant sein können.

Die Argumentation des Bundesgerichtshofs

Der 5. Strafsenat stellt in seinem Beschluss klar, dass getilgte Vorstrafen grundsätzlich nicht mehr zu Lasten eines Angeklagten verwertet werden dürfen – dies ergibt sich aus § 51 BZRG. Gleichwohl besteht eine gesetzlich normierte Ausnahme, wenn es um psychiatrische Gutachten im Rahmen der §§ 20, 21, 63 und 64 StGB geht. § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG erlaubt ausdrücklich die Verwertung solcher Vorbelastungen, wenn sie notwendig sind, um eine verlässliche Grundlage für die Beurteilung des Geisteszustandes und der Gefährlichkeit zu schaffen.

Der BGH betont, dass eine sachgerechte, wissenschaftlich fundierte Risikoprognose ohne Einbeziehung früherer gravierender Verhaltensmuster kaum möglich sei. Gerade bei psychischen Erkrankungen, deren Ausprägung auf bereits in der Jugend entwickelten Konfliktlösungsmustern beruht, könne ein solcher Rückgriff unverzichtbar sein. Die Sachverständige im konkreten Fall hatte nachvollziehbar dargelegt, dass der gewaltsame Vorfall von 2017 ein bedeutender Indikator für die persönliche Dynamik des Angeklagten sei – unabhängig davon, ob dieser noch strafrechtlich verwertbar sei oder nicht.

Darüber hinaus unterstreicht der Senat, dass der Rückgriff auf die frühere Tat hier nicht tragend für die Verurteilung war, sondern im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose exemplarisch herangezogen wurde. Die Entscheidung beruhte vielmehr maßgeblich auf den aktuellen Anlasstaten sowie auf der diagnostizierten Schizophrenie in Verbindung mit einer geringen Frustrationstoleranz. Die Tat von 2017 hatte lediglich erläuternde Funktion und diente der Veranschaulichung der bereits aus anderen Quellen abgeleiteten Prognose.

Dogmatische und rechtspolitische Einordnung

Die Entscheidung greift tief in das Spannungsverhältnis zwischen Resozialisierung und Sicherheitsbedürfnis ein. Auf der einen Seite steht das berechtigte Interesse des Angeklagten, nach Tilgung früherer Taten einen Schlussstrich unter seine Vergangenheit ziehen zu können. Auf der anderen Seite verlangt eine verantwortungsvolle Kriminalprognose die Berücksichtigung aller relevanten Tatsachen – auch solcher, die in formeller Hinsicht nicht mehr belastend verwertet werden dürfen, wohl aber im Rahmen eines psychiatrischen Gesamtbildes informatorisch nutzbar sind.

Der Gesetzgeber hat diese Spannung bereits im Zuge der Reform des BZRG erkannt und ausdrücklich durch § 52 Abs. 1 Nr. 2 aufgelöst. Der BGH bestätigt mit dieser Entscheidung die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieser Regelung und weist zugleich darauf hin, dass bei entsprechender Einbindung in ein wissenschaftlich fundiertes Gutachten keine Verletzung der Persönlichkeitsrechte vorliegt.

Fazit

Die Essenz dieses Beschlusses besteht in der Feststellung, dass getilgte Vorstrafen – obwohl formal nicht mehr verwertbar – dennoch im Rahmen einer psychiatrischen Gefährlichkeitsprognose berücksichtigt werden dürfen, wenn sie zur Erstellung einer vollständigen Persönlichkeitsanamnese beitragen. Der BGH schafft damit Rechtssicherheit für die gerichtliche Praxis, wahrt das wissenschaftliche Fundament forensischer Gutachten und stärkt das öffentliche Interesse an einer zutreffenden Einschätzung künftiger Gefährdungslagen. Für Betroffene bleibt die Erkenntnis: Vergangenheit bleibt relevant – nicht strafrechtlich, aber menschlich erklärend.

Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht bei Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf
Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht mit Schwerpunkt Cybersecurity & Softwarerecht. Ich bin zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht und zur EU-Staatsanwaltschaft.Als Softwareentwickler bin ich in Python zertifiziert und habe IT-Handbücher geschrieben.

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