Umfang der Rechtskraft im Zivilprozess

Die Rechtskraft eines Urteils, durch das eine mangels Eintritts einer aufschiebenden Bedingung als zurzeit unbegründet abgewiesen worden ist, erstreckt sich auch auf die Entscheidungsgründe des Urteils, wenn darin die übrigen Anspruchsvoraussetzungen positiv festgestellt oder bejaht worden sind.

Dies hat der klargestellt (V ZR 72/21). Ist dies der Fall, kann die Klage im Folgeprozess nicht mit der Begründung abgewiesen werden, der Anspruch habe bereits im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Vorprozesses aus anderen Gründen als dem fehlenden Eintritt der aufschiebenden Bedingung nicht bestanden.

In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass die Abweisung einer Zahlungsklage als derzeit unbegründet gemäß § 322 Abs. 1 ZPO in Rechtskraft erwächst, wenn dem Kläger bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung kein fälliger Zahlungsanspruch gegen den Beklagten zustand. Die zitierten Entscheidungen betrafen jeweils Konstellationen, in denen die Vorinstanzen diese Rechtskraftwirkung verkannt, also einen im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Vorprozesses fälligen Anspruch bejaht hatten.

Inwieweit einer Klageabweisung als derzeit unbegründet neben dieser „negativen“ Rechtskraftwirkung zulasten des Klägers auch eine „positive“ Rechtskraftwirkung dahin gehend zukommen kann, dass zugunsten des Klägers das Vorliegen bestimmter Anspruchsvoraussetzungen feststeht, war bislang umstritten (offen gelassen von BGH, Urteil vom 4. Mai 2000 – VII ZR 53/99, BGHZ 144, 242, 245).

Diese Frage hat der III. Zivilsenat in einer nach Erlass des Berufungsurteils ergangenen Entscheidung in einem Fall bejaht, in dem in einem Vorprozess ein Amtshaftungsanspruch gegen einen Notar (§ 19 Abs. 1 Satz 1 BNotO) umfassend geprüft und dann allein wegen des Bestehens einer anderweitigen Ersatzmöglichkeit abgewiesen worden war (vgl. Urteil vom 9. Juni 2022 – III ZR 24/21, NJW 2022, 2754 Rn. 17 ff., mit umfangreichen Nachweisen zum Streitstand).

Danach erstreckt sich die Rechtskraft eines die Klage als derzeit unbegründet abweisenden Urteils auch auf das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen im Übrigen, wenn und soweit diese in den Entscheidungsgründen bejaht oder positiv festgestellt worden sind. Für die Bestimmung des Umfangs der Rechtskraft sind bei klageabweisenden Urteilen Tatbestand und Entscheidungsgründe ergänzend heranzuziehen.

Eine Klageabweisung als derzeit unbegründet wegen des Bestehens einer anderweitigen Ersatzmöglichkeit dürfe bei einem Anspruch aus § 19 Abs. 1 Satz 1 BNotO nur erfolgen, wenn die übrigen Anspruchsvoraussetzungen geprüft und für gegeben erachtet worden seien. Habe das Gericht diese Prüfung – wie geboten – vorgenommen und die übrigen Voraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs für gegeben erachtet, dann – so der III. Zivilsenat – müsse das Vorliegen der bei der Prüfung bejahten Tatbestandsmerkmale Teil des in Rechtskraft erwachsenen Entscheidungssatzes sein.

Entsprechendes gelte für den hier vorliegenden Fall der Abweisung der Klage als derzeit unbegründet mangels Eintritts einer aufschiebenden Bedingung. Der überzeugenden Argumentation des III. Zivilsenats schließt sich der V. Zivilsenat an und hält sie auch in dieser Konstellation für zutreffend. Allerdings erwächst nicht der gesamte Inhalt des Urteils in Rechtskraft. Die Rechtskraft beschränkt sich vielmehr auf die Rechtsfolge, die den Entscheidungssatz bildet, den das Gericht aus dem Sachverhalt durch Subsumtion unter das objektive Recht gewonnen hat.

Bei einer klageabweisenden Entscheidung ist der aus den Entscheidungsgründen zu entnehmende, für die Rechtsfolge maßgebliche Abweisungsgrund allerdings Teil des in Rechtskraft erwachsenen Entscheidungssatzes und nicht nur Bestandteil der Urteilsgründe. Bejaht das Gericht im Vorprozess, in dem der Beklagte die uneingeschränkte Klageabweisung beantragt, die Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs mit Ausnahme des Eintritts aufschiebender Bedingungen, so ist die Bejahung der Anspruchsvoraussetzungen nicht nur ein Element der Urteilsbegründung und eine Vorfrage, sondern, gemessen am Rechtsschutzziel des Beklagten, ein entscheidender Abweisungsgrund.

Dann ist es aber folgerichtig, dass sich die Bejahung der Anspruchsvoraussetzungen „positiv“ zugunsten des Klägers auswirkt. Dieses Ergebnis ist auch deshalb überzeugend, weil andernfalls der Kläger in einem Folgeprozess gegebenenfalls gezwungen wäre, die bereits geprüften und bejahten Anspruchsvoraussetzungen erneut zu beweisen. Der Beklagte könnte also durch erneutes Bestreiten erreichen, dass sowohl im Vorprozess als auch im Folgeprozess eine umfassende Prüfung derselben Anspruchsvoraussetzungen erfolgt. Ein solches Ergebnis wäre prozessökonomisch unsinnig, weil es die Ergebnisse des Vorprozesses entwerten würde.

Soweit das Gericht des Vorprozesses im Falle einer Klageabweisung als zurzeit unbegründet mangels Eintritts einer aufschiebenden Bedingung in den Entscheidungsgründen das Bestehen des geltend gemachten Anspruchs – mit Ausnahme des Eintritts einer aufschiebenden Bedingung – bejaht hat, ist es dem Beklagten daher aufgrund der Rechtskraftwirkung dieses Urteils im Folgeprozess verwehrt, Einwendungen und Einreden gegen das Bestehen des Anspruchs geltend zu machen, die bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung bzw. dem dieser mündlichen Verhandlung entsprechenden Zeitpunkt des Vorprozesses entstanden sind. Die Klage kann im Folgeprozess nicht mit der Begründung abgewiesen werden, der Anspruch habe bereits im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Vorprozesses aus anderen Gründen als dem fehlenden Eintritt der aufschiebenden Bedingung nicht bestanden. Hat das Gericht allerdings keine Prüfung des Anspruchs dem Grunde nach vorgenommen, sondern die Klage dem Grunde nach lediglich als „jedenfalls derzeit unbegründet“ abgewiesen, tritt eine solche Rechtskraftwirkung nicht ein. Denn mangels Prüfung des Anspruchs in der Sache liegt insoweit bereits kein tragender Abweisungsgrund vor (vgl. auch BGH, Urteil vom 9. Juni 2022 – III ZR 24/21, NJW 2022, 2754 Rn. 23 f.).

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften.

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