Der Bundesgerichtshof (2 StR 49/23) konnte auf die Rechtslage hinweisen, dass, wenn in Deutschland eine polizeiliche Beschuldigtenvernehmung entgegen § 141a Satz 1, § 141 Abs. 2, § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ohne Bestellung des zwingend (!) vorgesehenen Pflichtverteidigers erfolgt – hieraus kein automatisches Verwertungsverbot folgt.
Der BGH führt aus, dass nach dem Willen des Gesetzgebers ein Verstoß gegen die genannten Vorschriften über die Pflichtverteidigung nicht automatisch zu einem Verwertungsverbot führt. Vielmehr gelten in diesen Fällen die allgemeinen Grundsätze, wonach anhand der Umstände des Einzelfalls unter Abwägung aller maßgeblichen Gesichtspunkte und der widerstreitenden Interessen zu entscheiden ist („Abwägungslehre“).
Zum Verwertungsverbot bei uns:
- Die Abwägungslehre des BGH
- Beweisverwertungsverbot: Spontanäußerung und Verwertungsverbot
- Beweisverwertungsverbot bei Ordnungswidrigkeit und im Strafprozess
- EUGH: Verwertungsverbot bei mangelhafter Verteidigungsmöglichkeit
- Beweisverwertungsverbot bei rechtswidriger Hausdurchsuchung
- Kein Verwertungsverbot bei Vernehmung ohne zwingend vorgesehenen Pflichtverteidiger
Ein Verwertungsverbot ist danach nur bei schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen anzunehmen, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen wurden (der BGH verweist auf BT-Drucks. 19/13829, S. 39). Dabei spielt es dann eine Rolle, ob es sich um einen besonders schwerwiegenden Vorwurf handelt und die Bestellung des Pflichtverteidigers nur versehentlich unterblieben ist:
Das Landgericht hat in seinem den Widerspruch gegen die Verwertung zurückweisenden Beschluss zutreffend in den Blick genommen, dass das staatliche Verfolgungs- und Aufklärungsinteresse – wie hier – bei einem Delikt schwerer Kriminalität besonders hoch ist, die Beschuldigtenvernehmung nicht unter bewusster Umgehung des § 141a StPO durchgeführt wurde, sondern die seit dem 13. Dezember 2019 geltende Neuregelung lediglich aufgrund eines Versehens nicht zur Anwendung gelangte, weil die beteiligten Ermittlungsbeamten irrtümlich davon ausgingen, dass eine Vernehmung eines unverteidigten Beschuldigten weiterhin zulässig sei, wenn dieser Beschuldigte hiermit einverstanden sei, und damit der festgestellte Verstoß von geringerem Gewicht ist.
Bundesgerichtshof, 2 StR 49/23
Nun könnte man sich auch auf den Standpunkt stellen, dass gerade, weil es um einen gravierenden Vorwurf geht, das Interesse hoch sein muss, dass jemand nicht ohne rechtlichen Beistand geübten Ermittlern in einer Vernehmung ausgesetzt ist. Vielleicht auch, um allzu steuernde Vernehmungen im Keim zu ersticken – doch genau hier ist der wesentliche Unterschied zum US-System, wo solche Fehler dazu führen, dass Verfahren scheitern können.
- Entscheidung des OLG Oldenburg zur Strafbarkeit wegen Autorennens bei Polizeiflucht - 14. Januar 2025
- Haftung der Bank bei Täuschung durch Call-ID-Spoofing-Betrüger - 14. Januar 2025
- EUGH zu Datenschutz im Beschäftigungskontext: Datenverarbeitung auf Basis einer Kollektivvereinbarung - 14. Januar 2025