Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat in einem bemerkenswerten Beschluss (Az. 12 KLs 504 Js 1820/21) am 28. März 2024 entschieden, dass die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen einen Angeklagten wegen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt sowie Betruges abgelehnt wird.
Diese Entscheidung bietet eine umfassende Auseinandersetzung mit den rechtlichen Problemen rund um Scheingesellschaften, sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen und die Abgrenzung von Geschäftsführern und Gesellschaftern in Personengesellschaften.
Sachverhalt
Die Staatsanwaltschaft legte dem Angeklagten vor, zusammen mit weiteren Personen eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) gegründet und später in eine offene Handelsgesellschaft (OHG) umgewandelt zu haben. Der Angeklagte soll in 53 Fällen Arbeitsentgelt vorenthalten und veruntreut sowie in 37 Fällen Betrug begangen haben.
Es wurde behauptet, dass die OHG lediglich eine Scheingesellschaft sei, um Sozialversicherungsbeiträge zu vermeiden, und die übrigen Gesellschafter in Wahrheit als sozialversicherungspflichtige Beschäftigte des Angeklagten tätig gewesen seien.
Rechtliche Analyse
Die Kernfrage in diesem Fall war, ob die Gesellschafter der OHG tatsächlich als Arbeitnehmer des Angeklagten zu betrachten sind und ob somit eine Pflicht zur Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen bestand. Das Gericht stellte fest, dass für die Beurteilung, ob jemand als Arbeitgeber gilt, die tatsächlichen Gegebenheiten des Beschäftigungsverhältnisses entscheidend sind. Hierzu zählen insbesondere die Eingliederung in den Betrieb und das Weisungsrecht des Arbeitgebers.
Scheingesellschaft und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
Das Gericht verneinte das Vorliegen einer Scheingesellschaft und stellte fest, dass keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die OHG nur vorgeschoben wurde, um Sozialversicherungsbeiträge zu sparen. Es konnte nicht nachgewiesen werden, dass die weiteren Gesellschafter tatsächlich in persönlicher Abhängigkeit und nach Weisung des Angeklagten tätig waren.
Hierbei gilt, dass persönlich haftende Gesellschafter rechtsfähiger Personengesellschaften in ihrer Funktion als Gesellschafter grundsätzlich keine Beschäftigten im Sinne des § 7 SGB IV sind. Dies liegt daran, dass sie keine weisungsgebundenen Arbeitnehmer sind, sondern als gleichberechtigte Partner innerhalb der Gesellschaft agieren. Die persönliche Haftung und die Eingliederung in die Geschäftsführung der Gesellschaft sprechen dagegen, dass sie in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stehen. Die rechtliche Einordnung basiert auf der tatsächlichen gelebten Vertragspraxis und nicht nur auf den formellen Verträgen
Der geschäftsführende Gesellschafter einer OHG kann nur dann als Arbeitgeber der übrigen Gesellschafter angesehen werden, wenn diese tatsächlich als abhängig Beschäftigte und nicht als gleichberechtigte Partner agieren. Im Fall der P OHG sah das Gericht die übrigen Gesellschafter jedoch als gleichberechtigt an. Es wurde festgestellt, dass die Gesellschafter ihre Tätigkeit auf Grundlage des Gesellschaftsvertrages erbrachten und dabei ein unternehmerisches Risiko trugen.
Die tatsächliche Durchführung der Gesellschaftsverhältnisse zeigte, dass die Gesellschafter nicht dem Weisungsrecht des geschäftsführenden Gesellschafters unterlagen, sondern im Wesentlichen gleichberechtigt waren und selbst unternehmerische Entscheidungen trafen. Diese Einschätzung wurde durch regelmäßige Gesellschafterversammlungen und die gemeinsame Entscheidungsfindung bestätigt.
Fluktuation der Gesellschafter
Ein weiterer Punkt der Anklage war die hohe Fluktuation im Gesellschafterbestand, die als Indiz für eine Scheingesellschaft gewertet wurde. Das Gericht führte jedoch aus, dass eine Fluktuation alleine nicht ausreicht, um eine Gesellschaft als Scheingesellschaft zu qualifizieren. Es bedarf einer umfassenden Betrachtung aller Umstände.
Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen
Für den Vorwurf des Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a StGB) ist Vorsatz erforderlich. Der Angeklagte müsste demnach zumindest in der Laiensphäre erkannt haben, dass er als Arbeitgeber zur Abführung dieser Beiträge verpflichtet ist. Das Gericht konnte jedoch nicht feststellen, dass der Angeklagte diese Pflicht bewusst verletzt hat.
Vorsätzliches Handeln bei pflichtwidrig unterlassenem Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen setzt im Kern voraus, dass der Täter die rechtlichen Wertungen des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre nachvollzogen hat. Dies bedeutet, dass der Täter seine Rolle als Arbeitgeber und die daraus resultierenden sozialversicherungsrechtlichen Pflichten zumindest für möglich halten und deren Verletzung billigend in Kauf genommen haben muss.
Die vorliegende Entscheidung macht deutlich: Es gibt Verteidigungspotenzial beim Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt. Insbesondere neigen Staatsanwaltschaften mitunter dazu, aus rudimentär ermittelten (und wirtschaftlich nicht vollständig verstandenen) Umständen schnell auf Arbeitsverhältnisse zu schließen, die am Ende keine sind.
In dem vorliegenden Fall konnte der Angeschuldigte glaubhaft darlegen, dass sowohl er als auch die übrigen Gesellschafter von ihrer Stellung als gleichberechtigte Partner und nicht als Arbeitnehmer ausgegangen sind. Diese Auffassung wurde durch das Verhalten und die Struktur der Gesellschaft unterstützt, wodurch ein Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 Abs. 1 StGB vorlag. Der Angeschuldigte konnte daher nicht vorsätzlich gehandelt haben, da er sich nicht als Arbeitgeber im sozialversicherungsrechtlichen Sinne sah.
Fazit
Die Entscheidung des LG Nürnberg-Fürth unterstreicht die Komplexität der rechtlichen Bewertung von Beschäftigungsverhältnissen in Personengesellschaften. Sie zeigt, dass hohe Anforderungen an den Nachweis einer Scheingesellschaft und die persönliche Abhängigkeit von Gesellschaftern gestellt werden.
Zudem wird deutlich, dass für den Vorwurf des Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen eine klare Vorsatzhandlung erforderlich ist. Diese Entscheidung hat weitreichende Implikationen für die Praxis, insbesondere für die Abgrenzung von Gesellschaftern und Arbeitnehmern sowie die Bewertung sozialversicherungsrechtlicher Pflichten in Unternehmensstrukturen.
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