Vergewaltigung: Bundesgerichtshof rüttelt an Mindestfreiheitsstrafe

In einem Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH, 2 StR 477/23) vom 23. Mai 2023 deutet sich eine Kehrtwende in der bei Vergewaltigungen an. Dabei ging es um eine Strafsache wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit und Beischlaf zwischen Verwandten.

Sachverhalt

Der Angeklagte wurde zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten richtete sich gegen die Verurteilung sowie die Strafzumessung.

Rechtliche Analyse

In aller Kürze wurde folgendes entschieden:

  1. Schuldspruch: Der Schuldspruch wurde hinsichtlich des Tatbestands des Beischlafs zwischen Verwandten (§ 173 Abs. 1 StGB) geändert. Der BGH stellte klar, dass der Begriff des „Beischlafs“ das Eindringen des männlichen Glieds in die Scheide voraussetzt, was Analverkehr ausschließt.
  2. Strafausspruch: Der Strafausspruch hielt rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Landgericht hatte alle Einzelfreiheitsstrafen dem Strafrahmen des § 177 Abs. 6 StGB entnommen, ohne zu erörtern, ob Milderungsgründe eine Ausnahme von der Regelwirkung rechtfertigen könnten.
  3. Strafrahmenwahl: Der BGH hebt hervor, dass bei der Wahl des Strafrahmens, insbesondere bei der Anwendung des § 177 Abs. 6 StGB, das gesamte Tatbild und die Täterpersönlichkeit zu berücksichtigen sind. Gewichtige Milderungsgründe könnten eine Ausnahme von der Regelwirkung rechtfertigen.
  4. Folgen für das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht: Das Landgericht muss prüfen, ob psychische Tatfolgen unmittelbare Folge spezifischer Taten sind. Sind sie Folge aller Taten, dürfen sie nur bei der Bildung der Gesamtstrafe berücksichtigt werden.

Geänderte Strafzumessung bei Vergewaltigung

Das besondere ist oben Punkt 3, bei einem genauen Blick in den Beschluss zeigen sich durchaus überraschende Ausführungen, die man insgesamt zur Kenntnis nehmen sollte:

Zwar ist das Landgericht zu Recht davon ausgegangen, dass der Angeklagte das Regelbeispiel nach § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB verwirklicht hat. Nach ständiger Rechtsprechung kann gleichwohl eine Ausnahme von der Regelwirkung in Betracht kommen, wenn ein Regelbeispiel mit gewichtigen Milderungsgründen zusammentrifft.

Der Bestrafung kann dann ausnahmsweise der Strafrahmen des § 177 Abs. 1 StGB zugrunde gelegt werden. In extremen Ausnahmefällen – ein solcher liegt hier freilich fern – kann sogar eine weitergehende Milderung des Strafrahmens und die Bemessung der Strafe aus dem Rahmen für den minder schweren Fall (§ 177 Abs. 9 StGB) in Betracht zu ziehen sein (…)

Für die Entscheidung, ob die Regelwirkung des Regelbeispiels für den besonders schweren Fall ausnahmsweise wegen gewichtiger Milderungsgründe entfällt, ist – ähnlich wie bei der Prüfung der Voraussetzungen eines minder schweren Falles – auf das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit abzustellen und zu prüfen, ob sich angesichts deutlich überwiegender Milderungsgründe die Bewertung der Tat als besonders schwerer Fall als unangemessen erweisen würde (…)

Ob und gegebenenfalls in welchen Fällen hier ausnahmsweise die Regelwirkung des Regelbeispiels entfällt, hätte – auch mit Blick darauf, dass das Landgericht bei der Strafzumessung im engeren Sinne gewichtige Umstände anführt, die gegen einen Wegfall der Regelwirkung sprechen können – unter den gegebenen Umständen schon deshalb der Erörterung bedurft, weil der nicht in Deutschland vorbestrafte Angeklagte hier erstmalig eine zu verbüßen hat.

Das lässt massiv aufhorchen: Während bisher das Regelbeispiel in der Praxis nicht angetastet wird, wenn der Tatbestand erfüllt ist, will der BGH nun (unter ausdrücklichem Heranziehen der Grundsätze des minder schweren Falls!) insbesondere die Täterpersönlichkeit berücksichtigen. Dass das neu ist, zeigen die fehlenden Fundstellen – aber auch die schlichte Tatsache, dass vergleichbare Fälle bisher beim 2. Senat nicht zu solchen Äußerungen geführt haben. Speziell der ausdrückliche Hinweis auf die erstmalige Freiheitsstrafe als Kriterium verändert drastisch die Verteidigungslinie.

Auswirkungen der Entscheidung

Die Entscheidung ist unscheinbar, kann aber gravierende Auswirkungen haben – insbesondere durchbricht der BGH mit dieser Ansicht die vom Gesetzgeber nicht gesehene Problematik, dass es sich für viele Angeklagte eher „lohnt“ zu bestreiten, als duch ein Geständnis die Sache abzukürzen. Die hier aufgestellten Grundsätze würde bei einem nicht vorbestraften geständigen Angeklagten die Möglichkeit der sicheren eröffnen, was ein anderes Verteidigungsverhalten nahelegt als bisher in zahlreichen Fällen (und damit auch den Opfern zugutekommt).

Verteidiger müssen diese Entscheidung „auf dem Schirm“ haben und werden in Zukunft ganz anders bei Landgerichten argumentieren können – und müssen.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften. Dabei bin ich fortgebildet in Krisenkommunikation und Compliance.

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