Dem unionsrechtlichen Anspruch aus Art. 15 der Verordnung (EU) 2016/679 (DSGVO) kann auch der mitgliedstaatliche Einwand der unzulässigen Rechtsausübung wegen Rechtsmissbrauchs oder Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben entgegenstehen, wie das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 15 K 3678/22, klargestellt hat.
Es führt dazu aus, dass es dann, wenn ein Rechtsschutzbegehren erkennbar nicht mehr der Wahrnehmung von Verfahrensrechten, sondern ausschließlich verfahrensfremden Zwecken dient, keiner förmlichen Ablehnung oder Zurückweisung durch Prozessurteil bedarf. Das Rechtsschutzbegehren ist dann von vornherein unbeachtlich; wurde es zunächst zu Unrecht als förmliches Rechtsmittel behandelt, ist das Verfahren einzustellen:
Für den auf Art. 15 Abs. 3 Satz 1 der VO (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (ABl. 2016 L 119, 1, sowie [Berichtigungen] ABl. 2016 L 314, 72, ABl. 2018 L 127, 2 und ABl. 2021 L 74, 35) – nachfolgend DSGVO – gestützten Antrag zu a) gilt nichts anderes. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat den Einwand unzulässiger Rechtsausübung aus dem Grundsatz von Treu und Glauben abgeleitet.61
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 6. Oktober 2022– 15 A 760/20 –, juris Rn. 78,62
Dieser allgemeine Rechtsgrundsatz unzulässiger Rechtsausübung kann auch der Geltendmachung eines Betroffenenrechts der DSGVO entgegenstehen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dürfen nationale Gerichte eine innerstaatliche Rechtsvorschrift über die gegen Treu und Glauben verstoßende missbräuchliche Rechtsausübung anwenden, um zu beurteilen, ob ein sich aus einer Gemeinschaftsbestimmung ergebendes Recht missbräuchlich ausgeübt wird.63
EuGH, Urteil vom 12. Mai 1998 – C-367/96,ECLI:EU:C:1998:222 = EuZW 1999, 56 Rn. 20f.; Lembke, NJW 2020, 1841 (1845).64
Wenn die rechtsmissbräuchliche Berufung auf Unionsrecht anhand einzelner nationaler Rechtsvorschriften zum Schutz von Treu und Glauben festgestellt werden kann, gilt dies erst recht für den demselben Schutz dienenden allgemeinen, die gesamte Rechtsordnung durchziehenden Rechtsgedanken. Nach der vom Europäischen Gerichtshof hierfür gezogenen Grenze darf hierbei die volle Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigt werden, insbesondere dürfen die Tragweite einer Gemeinschaftsbestimmung, aus der sich das der Missbrauchskontrolle unterzogene Recht ergibt, nicht verändert oder die mit ihr verfolgten Zwecke nicht vereitelt werden.65
EuGH, Urteil vom 12. Mai 1998 – C-367/96,ECLI:EU:C:1998:222 = EuZW 1999, 56 Rn. 22.66
Letztlich ist der Anspruch aus Art. 15 DSGVO von derselben Motivation getragen, die den Einwand unzulässiger Rechtsausübung sonstiger Ansprüche auf Informationszugang, -auskunft und -kopie begründen. Eine andere Würdigung eröffnete die Möglichkeit, den Einwand, der den nationalen Ansprüchen entgegensteht, zu umgehen. Deshalb steht dem vom Kläger geltend gemachten Anspruch aus Art. 15 DSGVO hier auch der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen.67
Die Einordnung des vorliegenden Begehrens als gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßend wahrt die dargestellten Anforderungen des Unionsrechts. In dem gegebenen Extremfall wird weder die Tragweite der Grundsätze des Datenschutzes und der Betroffenenrechte nach Art. 15 ff. DSGVO verändert noch die mit ihnen verfolgten Zwecke vereitelt. Datenschutzfremde Zwecke und eine Belästigungsabsicht gegenüber der Gerichtsbarkeit sind nicht vom Schutzzweck der Betroffenenrechte (Transparenz und Rechtmäßigkeitskontrolle, vgl. Erwägungsgrund 63 Satz 1 zur DSGVO) erfasst.68
Nach alledem war das Verfahren einzustellen. Da im konkreten Fall über das „Verfahrenshindernis“ der Unbeachtlichkeit einer Klage erst nach ihrer anfänglichen förmlichen Behandlung befunden wird, ist das Verfahren nunmehr aus Gründen der Rechtsklarheit, analog zu der Regelung nach einer Klagerücknahme (vgl. § 92 Abs. 2 VwGO), durch gerichtlichen Beschluss einzustellen. Wie dort ist der Rechtsstreit als nicht anhängig geworden anzusehen. Die Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung ergehen, weil der Grundsatz der Mündlichkeit des Verfahrens (in seiner Ausformung durch die Verwaltungsgerichtsordnung) sich nur auf förmliche Rechtsbehelfe im Sinne des Prozessrechts bezieht.
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 15 K 3678/22
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