Dass bei terminlicher Verhinderung des gewünschten Pflichtverteidigers dessen zumindest teilweise Mitwirkung nicht durch die Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers ermöglicht werden kann, hat der BGH in einer ungeheuerlichen Entscheidung klargestellt.
Denn, so der BGH: Die Beiordnung nach § 144 Abs. 1 StPO dient nicht der Entlastung des weitgehend verhinderten Pflichtverteidigers, zumal – von eng begrenzten Ausnahmen abgesehen – grundsätzlich jeder Pflichtverteidiger in der Hauptverhandlung ununterbrochen anwesend sein muss (BGH, StB 35/22):
§ 144 Abs. 1 StPO hat vielmehr eigenständige, in den Umständen des Falles selbst liegende sachliche Voraussetzungen, die der Vorsitzende umfassend geprüft und verneint hat. Die Gründe hierfür hat er im angefochtenen Beschluss dargelegt. Er hat weder in dem Umfang des Verfahrensstoffs noch in der voraussichtlichen Dauer der Hauptverhandlung einen Anlass gesehen, der die Bestellung eines zweiten Verteidigers zum Zeitpunkt seiner Entscheidung erforderlich gemacht hat.
Dabei hat er die zutreffenden MaÃstäbe angelegt (s. zu diesen BGH, Beschlüsse vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 12 ff.; vom 24. März 2022 – StB 5/22, StraFo 2022, 285 f.; jeweils mwN) und eine vertretbare Entscheidung getroffen, mithin die Grenzen seines Beurteilungsspielraums eingehalten. Entgegen dem Beschwerdevorbringen ist es nicht zu beanstanden, dass der Vorsitzende Umfang und Schwierigkeit im Rahmen des § 144 Abs. 1 StPO anders gewichtet hat als zuvor bei der besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO.
Denn während es hier auf die zügige Durchführung des Hauptverfahrens ankommt, sind im Rahmen des § 121 Abs. 1 StPO Schwierigkeit und Umfang der Ermittlungen zu würdigen gewesen. Im Ãbrigen ist dem Beschwerdegericht eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle der Entscheidung des Vorsitzenden verwehrt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. August 2020 – StB 23/20, aaO Rn. 15; vom 13. April 2021 – StB 12/21, NStZ-RR 2021, 179).
BGH, StB 44/22
Es bleibt immer weniger Boden für den Rechtsstaat nicht angemessene Strafprozesse: Mit Segen des BGH können Gerichte inzwischen gefühlt nach Lust und Laune den gewünschten Verteidiger, wenn er denn terminlich verhindert ist, durch andere Verteidiger über den Kopf des Angeklagten hinweg austauschen.
Was schon bedenklich genug sein sollte, führt weiter gedacht zu einem anderen negativen Effekt: Wer genug Geld hat, kann seinen Anwalt so bezahlen, dass er Kollisionstermine schlicht platzen lässt; wer das Geld nicht hat, muss damit leben, dass das Gericht entscheidet, wer am Ende neben ihm sitzt.
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