Hängt ihn höher: Von der Vergeltung im Recht

„Strafe muss wehtun“ titelt heute Jan Fleischhauer bei Spiegel-Online und will die These vertreten: „Sinn von Strafe ist nicht Besserung, sondern Vergeltung.“ – Eine gute Gelegenheit, das immer wieder, auch von Laien, diskutierte Thema kurz anzugehen.

Die Frage nach dem Zweck – und somit zugleich auch in Teilen der Legitimation – der staatlichen Strafe ist ein uraltes und heiß diskutiertes Thema, das in einem kurzen Blog-Artikel nur komprimiert werden kann. Zum Vergleich: Claus Roxin, nach meinem dafürhalten einer der herausragendsten Strafrechtler der Neuzeit, benötigt in seinem Mammut-Kompendium zum Strafrecht AT immerhin satte 40 Seiten zu dieser Frage. Und selbst die sind nur ein gelungener Überblick mit angemessenem Tiefgang.

Böse Zungen behaupten heute, dass „Recht in seinem Ursprung von Rache kommt“. Hintergrund ist (neben der fatalen sprachlichen Ähnlichkeit in unserer Sprache, man betrachte nur „Gerecht“ und „gerächt“) wohl das germanische „Recht“, das in erster Linie versuchte „Gerechtigkeit“ zielgerichtet durch Rache dienenden Fehden herzustellen, die die jeweiligen Sippen untereinander ausübten. Eberhard Schmidt trifft es insofern auf den Nagel, wenn er in seiner Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege davon spricht, diese Instrumente waren „geradezu tragende Bestandteile der germanischen Rechtsordnung“.

Nun ist die Zeit der Sippen vorbei und wir leben in einem staatlich geordneten Gefüge, in dem der Staat das Gewaltmonopol für sich verbucht hat – oder verständlich: Der Staat, legitimiert von der Gemeinschaft, behält sich alleine das Recht vor, Strafe gegen die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft zu verhängen. Soweit, so ehrenvoll – doch warum tut der Staat das? Diese Frage versuchen die Theorien zum Strafzweck zu klären, und die Wortwahl deutet es schon an: Es gibt gleich mehrere Theorien.

Die ältesten Theorien des neuzeitlichen Strafrechts sind die so genannten „absoluten Theorien“, als einer derer Verfechter durchaus der auch im Spiegel-Beitrag zitierte Karl Binding angeführt werden kann. Dieser sah Strafe als Vergeltung für begangenes Unrecht – in seinem Buch „Grundriss des deutschen Strafrechts, Allgemeiner Teil“, das 1913 erschienen ist. Diese Ansicht aber auf Binding zu reduzieren wäre nicht nur zu wenig, es wäre falsch: Die Wurzeln des Vergeltungsgedanken finden sich bei Kant und Hegel, allerdings mit einem bemerkenswerten Hintergedanken: Beide lehnten „Nützlichkeitserwägungen“ im Rahmen der Strafe ab. Gemeint ist damit, dass die Strafe verhängt wird, um ein bestimmtes Ziel beim Täter (etwa die Resozialisierung) zu erreichen. Denn: Solche Maßgaben wären mit der Würde des Menschen nicht vereinbar, da ihm sein Zustand als Wesen freien Geistes abgesprochen wird. Da spricht der wahre Geist des deutschen Idealismus.

Wie passt nun ein Begriff wie „Vergeltung“ zu so Namen wie Kant und Hegel? Auch das ist einfach beantwortet: Man muss wissen, was eigentlich mit Vergeltung gemeint ist. Fleischhauer im Spiegel weiss es leider nicht, und der Fehler ist verbreitet: Vergeltung ist nicht Rache. Wenn man bei SPON etwa das hier liest:

Vor allem bei den Opfern von Straftaten und ihren Angehörigen überwiegt allen Strafrechtsreformen zum Trotz der Wunsch, den Täter leiden zu sehen für das, was er ihnen angetan hat. Sie erwarten von den Vollzugsorganen, ihnen eine Genugtuung zu verschaffen, die sie sich selbst nicht verschaffen dürfen.

Wird eindeutig „Vergeltung“ mit „Rache“ verwechselt – was nicht im Sinne von Kant oder Hegel ist. Kant etwa verlangt die „Strafe um der Gerechtigkeit willen“ – wer hier einen Rache-Gedanken, das Gefühl der Befriedigung ob des zugefügten Leids beim Täter, als Aspekt hinzuzieht, macht genau das Gegenteil von dem, worum es Kant geht – nämlich „Nützlichkeitserwägungen“ heranziehen. Hegel – der am Rande bemerkt kein Fan von Kant war – wollte das begangene Unrecht durch die Strafe schlicht aufgehoben sehen, den Willen des Gesetzes wiederhergestellt sehen. Der Gedanke ist heute noch verbreitet, Jakobs etwa spricht davon, dass man der verletzten Norm wieder zur Geltung verhelfen müsse, zieht aber (wie gleich gezeigt wird) andere Schlüsse daraus für den Strafzweck.

Übrigens sieht das Binding, der vom SPON-Autor ja herangeführt wird, genauso, der 1922 in seinem Werk „Die Normen und deren Übertretung“ die Rolle des Opfers vollkommen ausblendet, da das Strafrecht mit Binding nicht den Konflikt zwischen Opfer und Täter klären soll, sondern alleine den Rechtsbruch als solchen. Ausgerechnet mit Binding anzuführen, es sei im Sinne der Opfer, Strafe zum Zweck der Rache einzuführen, begeht also letztlich zwei derbe Fehler.

Die absoluten Straftheorien sind heute überholt – und das nicht nur, weil sie in ihrem Denken einen Ursprung in einer Gesellschaft haben, die gute 200 Jahre hinter uns liegt. Wesentliche Kritikpunkte sind zum einen, dass die Theorien die Strafe schon als notwendig voraussetzen und gerade nicht klären, warum es der Strafe – als Zufügung von Leid – überhaupt bedarf. Daneben steht das Problem, dass das Weltbild der damaligen Zeit, mit dem Kant und Hegel „Nützlichkeitserwägungen“ verneinen, heute nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Wir haben die Einsicht gewonnen, dass eben nicht nur das Individuum die Gesellschaft prägt und nach naturrechtlichen und von Gott gegebenen Gesetzen lebt. Vielmehr haben wir gelernt, dass „Nützlichkeitserwägungen“ im Sinne einer Hilfe und Unterstützung durch den Staat bei der Eingliederung und Formung einer Gesellschaft wesentlicher Bestandteil der Menschenwürde ist. Heute nennt man das „Sozialstaat“ und ist begrifflich für Kant und Hegel von damals unvorstellbar.

Neben den absoluten Theorien gibt es dann naheliegend die relativen Theorien, die sich aufsplitten in die Strafe zur Generalprävention und die Strafe zur Spezialprävention, jeweils in einer positiven und negativen Variante. Kurzübersicht dazu, in Klammern jeweils ein bekannter Vertreter der Thesen:

  • negative Generalprävention: Die Strafe dient der Abschreckung der Allgemeinheit vor der Begehung einer Tat (Feuerbach)
  • positive Generalprävention: Der Glaube der Allgemeinheit an die Geltung der Norm wird wieder hergestellt (Jakobs)
  • negative Spezialprävention: Strafe dient dazu, den einzelnen von der Begehung (weiterer) Straftaten abzuschrecken (v. Liszt)
  • positive Spezialprävention: Die Strafe dient der Besserung des Einzelnen (v. Liszt)

Dabei sind die Theorien mitunter sehr geschichtlich: Feuerbach vertrat den Gedanken der negativen Generalprävention gegen Ende des 19. Jahrhunderts (1847),  v. Liszt dagegen, entwickelte den Gedanken, dass Strafe und Verbrechen als soziale Erscheinungsformen zu verstehen seien, bereits 1905. Jakobs baute das rigoros aus und verstand Strafe – unter Rückgriff auf die Kommunikationslehre von Niklas Luhmann – als Mittel der Kommunikation in der Gesellschaft, was bei ihm schon fast zwingend zum Gedanken der positiven Generalprävention führen musste.

Das sind nun eine Menge Theorien, sehr viel abstrakte Gedanken, die vielen sicherlich sehr kompliziert erscheinen, manchen vielleicht klug – aber in der Summe werden die meisten wohl sagen, dass das ein Opfer, das ein Verbrechen erlebt hat, wenig kümmern wird. Das ist wohl auch korrekt, aber wir müssen uns fragen: Was wollen wir? Der Blick auf die Theorien verwirrt nur dann nicht, wenn man beginnt ehrlich zu sein – und ehrlich ist nur das „wir“.

Denn, und das muss man leider feststellen, die Erfahrung lehrt leider, dass gerade die, die am lautesten nach Vergeltung und Rache schreien, eben nicht die sind, um die es geht – sondern sie sind Außenstehende, die aus verschiedensten Gründen „harte Strafen“ wünschen. Etwa um sich zu profilieren, um sich besser zu fühlen oder schlicht um Instinkte zu bedienen. Wer aber nun als solch Außenstehender nach dem Sinngehalt und der Aufgabe von Strafe fragt (und eine Antwort geben möchte), der kann das einzig und alleine aus der Position der Gemeinschaft heraus tun.

Die Kriminologie ist dabei heute soweit, dass zumindest fest zu stehen scheint, dass die präventiven Zwecksetzungen erheblich erfolgreicher sind als absolute Gedanken, wenn es darum geht, eine Gesellschaft mit möglichst wenig Kriminalität anzustreben. Dabei zeigen sich in den präventiven Theorien die spezialpräventiven Aspekte als „in der Tendenz“ positiver. Dennoch lässt sich ein Bedürfnis der Gesellschaft nach dem „Wiederherstellen der Geltung der Norm“, also das Wiederherstellen in das Vertrauen in die Norm, keineswegs leugnen – die positive Generalprävention hat aus gutem Grund bis heute zahlreiche Anhänger. Und einer dieser Anhänger – Jakobs, der Vater des modernen Feindstrafrechts – führt sehr überzeugend auch an, dass Strafe zumindest als solche auch wahrnehmbar sein muss, oder wie Fleischhauer sagt: Weh tun muss.

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der hier nur am Rande eingestreut werden kann: Heute ist es in der Kriminologie gesicherte Erkenntnis, dass zwischen Schwere der Sanktion (etwa Todesstrafe) und der Neigung zur Begehung einer Tat (etwa ) kein kausaler Zusammenhang besteht. Vielmehr scheint ausschlaggebend zu sein, wie der potentielle Täter selbst das Entdeckungs- und Bestrafungsrisiko bewertet und was sein soziales Umfeld an Feedback sendet. Sprich: Wer von seinen Freunden hört, dass Straftaten eben nicht „cool“ sind und dabei auf Grund guter Polizeiarbeit davon ausgehen muss, erwischt zu werden, begeht die Tat mit einer höheren Wahrscheinlichkeit nicht, als wenn man überzogene Sanktionen androht.

Wenn man bis hierhin mitgelesen hat, trotz der Kürze der Ausführungen, wird man vor ein Problem gestellt: Die vielen Theorien und Ideen wirken alle irgendwo im Ansatz gut, aber letztlich überzeugt keine davon alleine. Gerade wenn man die praktischen Aspekte aus der Kriminologie hinzu zieht, fällt es umso schwerer, klare Position zu beziehen. Natürlich ist es einfach, einfach nur seinen Instinkten zu glauben und nach „mehr harter Strafe“ zu rufen. Ich hoffe aber, ich habe ein wenig deutlich gemacht, warum das für sich zwar vielleicht angenehm, aber eher dümmlich ist.

Heute versucht man sich aus diesem Dilemma mit Kompromissen zu lösen: Mit den Vereinigungstheorien. Hier versucht man, aus den verschiedenen einzelnen Theorien das herauszupicken, was einem gefällt, und damit eine neue Theorie zu schaffen, in der sich alles wiederfindet, was man so braucht. Es gibt eine Vielzahl dieser Theorien, die ich hier nicht in der Tiefe erörtern kann oder überhaupt möchte. Einer aber soll mit seiner These Erwähnung finden: Roxin.

Roxins These – stark vereinfacht – fußt darauf, dass man den gesamten Prozess der Bestrafung in einzelne Bestandteile splittet und dann jedem Bestandteil eine Funktion zuordnet. Beispiel: Bevor jemand bestraft wird, gibt es z.B. ein Gerichtsverfahren, einen Urteilsspruch und hinterher den Vollzug der Strafe. Man kann nun sagen, dass das Gerichtsverfahren der positiven Generalprävention zuträglich ist, wenn die Öffentlichkeit sieht, wie die tat aufgearbeitet wird vom Rechtsstaat. Im Schuldspruch (also wenn der Richter die Strafe verkündet und das Urteil spricht), kann man einen vergeltenden Aspekt im Sinne absoluter Strafthesen sehen. Und der Vollzug der Strafe dient spezialpräventiven Aspekten. Wer vom Fach ist, rotiert gerade auf dem Stuhl, weil das so zu stark vereinfacht ist, aber ich denke der Gedanke ist deutlich.

Ich weiss, dass vielen das zu abstrakt, zu „akademisch“ ist, was ich hier – ernsthaft so kurz wie möglich – versucht habe zu vermitteln. Und gerade diejenigen, die sich von Fleischhauers Spruch am Ende angesprochen fühlen:

Man kann nur froh sein, dass sich der Vergeltungswunsch derer, denen der Staat keine Satisfaktion mehr gewährt, nicht öfter außerhalb der vorgeschriebenen Verfahrenswege Bahn bricht.

wollen von all dem nichts wissen. Dabei wird aber verkannt, dass es gerade diese „akademischen“ Überlegungen sind – auf denen unser moderner strafender Rechtsstaat fußt – die uns davon abhalten, in die Zeit zurück zu verfallen, in der Fehde und Rache die tragenden Säulen der „Gerechtigkeit“ waren. Denn nur diese Überlegungen, dieser Anspruch an uns selbst als Gemeinschaft, ist es, der uns von dieser Zeit trennt. Dort, wo man Strafe nur noch der Sühne willen verhängt, wo kein Platz mehr ist für Fragen des Strafzwecks außerhalb der Rache des Opfers, da braucht man auch keinen Staat und kein mehr. Denn dort, wo Rache das Maß der Gerechtigkeit ist, wird keine Strafe außer der selbst verübten, hoch genug sein.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften.

Unsere Kanzlei ist spezialisiert auf Starke Strafverteidigung, seriöses Wirtschaftsstrafrecht, Arbeitsrecht und IT-Recht / Technologierecht.