Verfahrenssichernder Pflichtverteidiger wegen langer Verfahrensdauer

Das OLG Celle (5 StS 1/20) hat sich recht umfassend zu den Änderungen im Zuge der Reform der Pflichtverteidigung 2019/2020 geäußert und dabei insbesondere festgestellt, dass heute noch seltener die Voraussetzung eines zweiten Pflichtverteidigers anzunehmen sein dürfte.

Anmerkung: In der Sache mögen die Äußerungen des OLG zutreffen; letztlich ändert es nichts daran, dass Gerichte sich zunehmend nur noch selber Beine stellen, offenkundig von der blanken Panik getrieben, Verteidiger würden auch nur einen Euro zu viel verdienen. Aus der forensischen Praxis eines Strafverteidigers sei versichert: Dem ist nicht so. Die Pflichtverteidigersätze sind lächerlich niedrig, auch wenn die verbeamteten Juristen auf der Richterbank allzu gerne vergessen, dass wir mit diesen Hungergebühren Arbeitsplätze schaffen und finanzieren sollen. Es ist schlichtweg dumm, nicht die Möglichkeit zu nutzen, durch einen zweiten Verteidiger gerade komplexere Verfahren massiv zu beschleunigen, die man auf dem Weg wirklich günstig einkaufen kann. Dass andererseits die Argumentation der Verteidiger im Hinblick auf eine hochtheoretische Corona-Erkrankung auch eher abstrus ist lasse ich mal wertneutral unkommentiert.

Ausführungen des Gerichts zu §144 Abs.1 StPO

Aus ihrem insoweit eindeutigen Wortlaut ergibt sich, dass Prämisse und zentrale Voraussetzung dieser Norm – neben den weiteren Voraussetzungen des Falles einer notwendigen Verteidigung und der bereits erfolgten Beauftragung bzw. Bestellung eines Verteidigers – ist, dass die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens erforderlich sein muss. Der Beiordnung muss mithin nicht nur eine die weitere Durchführung des Verfahrens sichernde Wirkung zukommen, sie muss vielmehr zum Zeitpunkt ihrer Anordnung auch erforderlich sein. Dem – insoweit auch hier maßgeblichen – allgemeinem Sprachgebrauch folgend bedeutet dies, die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers muss zur Sicherung der weiteren Durchführung des Verfahrens wenn auch nicht unerlässlich, so aber doch zumindest notwendig sein. Eine die Durchführung des Verfahrens beschleunigende Wirkung muss der Beiordnung, wie die Verwendung des Adjektivs „zügig“ vermuten lassen könnte, hingegen nicht zukommen. Der Gesetzgeber dürfte hier vielmehr seiner Hoffnung Ausdruck verliehen haben, dass durch die Beiordnung das Verfahren auch weiterhin „zügig“ durchgeführt werden kann. Soweit der Gesetzgeber beispielhaft „Umfang oder Schwierigkeit“ des Verfahrens anführt, hat er sich ersichtlich eines Regelbeispiels bedient und dabei einen der Hauptanwendungsfälle benannt, in welchem die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers in Frage kommt.

Die Umstände, die einer zügigen Durchführung des Verfahrens entgegenstehen können und denen durch die Beiordnung eines solch zusätzlichen Verteidigers entgegengewirkt werden kann bzw. gegen die das Verfahren abgesichert werden soll, sind vielgestaltet und dürften aus diesem Grunde nicht abschließend aufgeführt worden sein. Sie können sich sowohl aus den tatsächlichen und rechtlichen Besonderheiten bzw. „Umfang oder Schwierigkeit“ als auch unabhängig hiervon alternativ oder gar auch kumulativ aus der Person des bereits gewählten bzw. nach § 141 StPO bestellten Verteidigers ergeben. Letzteres ergibt unmittelbar aus den Materialien des zum Gesetz gewordenen Entwurf zu § 144 StPO. So wird in der Begründung der Bundesregierung betreffend den Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung ausgeführt, eine Erforderlichkeit könne sich aus Gründen in der Person des Verteidigers wie bspw. (s)einer Krankheit ergeben (BT-Drs. 19/13829, S. 49). Diese Auffassung ist mit dem Wortlaut der Norm vereinbar. Der Gesetzgeber hat in § 144 Abs. 1 StPO zudem ersichtlich zwei Fälle geregelt, einen schlichten und einen qualifizierten Fall. Im qualifizierten Fall schien ihm die Bestellung nur eines weiteren Pflichtverteidigers nicht ausreichend, vielmehr die Bestellung von „zwei Pflichtverteidigern zusätzlich“ geboten.

Für den Fall, dass mit der Beiordnung einer Gefährdung der zügigen Durchführung der , wie hier der geltend gemachten Möglichkeit der Erkrankung der Verteidigerin begegnet werden soll, folgt aus der Tatsache der Erforderlichkeit der Beiordnung, dass diese Gefahr entsprechend der im Verwaltungsrecht geltenden Abgrenzung von Gefahrenlagen grundsätzlich nicht nur abstrakt, sondern konkret sein muss. Es reicht mithin regelmäßig nicht aus, wenn es sich um eine nach allgemeiner Lebenserfahrung nur mögliche Sachlage handelt, es muss vielmehr eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehen, dass sich die Gefahr in absehbarer Zeit auch verwirklicht. Nur in einem solchen Fall wäre die Beiordnung auch erforderlich bzw. notwendig.

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Ausführungen des Gerichts zu §140 Abs.2 StPO

Soll sich die Erforderlichkeit der Sicherung hingegen aus „Umfang oder Schwierigkeit“ des Verfahrens ergeben, kann bei der Auslegung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe nicht auf die ober- bzw. höchstrichterliche Rechtsprechung zu § 140 Abs. 2 StPO (vgl. zu dieser KK-/Willnow, 8. Aufl., § 140 Rn. 20 ff. m.w.N. auf die Rspr.) zurückgegriffen werden, wonach die „Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage“ die Beiordnung eines Verteidigers gebieten kann. Für einen Rückgriff könnte jedenfalls auf den ersten Blick sprechen, dass sich der Gesetzgeber bei der Konzeption des § 144 Abs. 1 StPO und dessen Voraussetzungen, wonach in einem Verfahren die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nach pflichtgemäßen Ermessen „insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit“ in Betracht kommen kann, offenbar an der Regelung über die notwendige Verteidigung und deren Generalklausel in § 140 Abs. 2 StPO (der Begriff findet in der alten wie in der neuen Fassung dieser Vorschrift Verwendung) orientiert hat. Dies ergibt sich zum einen aus dem direkten, am Wortlaut orientierten Vergleich der tatbestandlichen Voraussetzungen beider Normen. Beide eröffnen im Falle des „Umfangs oder (der) Schwierigkeit“ des Verfahrens, so § 144 Abs. 1 StPO, bzw. der „Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage“, so § 140 Abs. 2 StPO, die Bestellung eines Pflichtverteidigers. Zum anderen ergibt sich die Orientierung des Gesetzgebers an § 140 Abs. 2 StPO aus den Materialen. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 9. Oktober 2019 wird u.a. ausgeführt, nicht zuletzt könne wegen der „Schwierigkeit der Sache“ (vgl. BT-Drucksache 19/13829, a.a.O.) – und damit wegen eines bereits von § 140 Abs. 2 StPO erfassten Grundes – die Mitwirkung eines einzigen Verteidigers nicht ausreichen, mithin die Beiordnung eines weiteren Verteidigers geboten sein. Entscheidend ist indes und spricht gegen einen isolierten Rückgriff auf die zu § 140 Abs. 2 StPO ergangenen und diesbezüglich auch weiter gültige Rechtsprechung, dass § 140 Abs. 2 StPO die erstmalige, § 144 Abs. 1 StPO hingegen die darüberhinausgehende Möglichkeit der Bestellung eines zweiten bzw. gar dritten Verteidigers eröffnet und allein aus diesem Grunde der Begriff „Umfang oder Schwierigkeit“ des Verfahrens in § 144 Abs. 1 StPO anders auszulegen ist als der der „Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage“ in § 140 Abs. 2 StPO. Hierfür spricht auch, dass durch die Verwendung des Adverbs „insbesondere“ in § 144 Abs. 1 StPO hier nur solche Fälle des „Umfangs oder Schwierigkeit“ einschlägig sein sollen, die der weiterhin „zügigen Durchführung“ des Verfahrens entgegenstehen könnten.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften.

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