Wann sind sexuelle Handlungen erheblich: Im Sexualstrafrecht steht an erster Stelle regelmässig die Frage, ob einer vorgenommenen Handlung überhaupt die notwendige sexuelle Erheblichkeit im Sinne des Strafrechts innewohnte.
Zu dieser Frage konnte der Bundesgerichtshof klarstellen, dass er einerseits an dem Erheblichkeitsbegriff der bisherigen Rechtsprechung festhält, andererseits hieran auch nicht vor dem Hintergrund der mModernisierung des Sexualstrafrechts zu rütteln ist.
Sexuelle Erheblichkeit einer Handlung
Es gilt: Sexuelle Handlungen sind nur solche, die im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sind (§ 184h Nr. 1 StGB). Als erheblich im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen (BGH, 4 StR 72/23).
Wann ist eine sexuelle Handlung dann erheblich im strafrechtlich relevanten Sinn: Hier gibt es keine starre Formel, sondern vielmehr sind Art, Intensität und Dauer danach wertend zu betrachten, ob im Gesamtbild eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung vorliegt. Der BGH (2 StR 580/16) führt hierzu aus:
Als erheblich in diesem Sinne sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen (…). Dazu bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus (…). (…)
Zur Feststellung der Erheblichkeit bedarf es dann einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus (BGH, 2 StR 558/15).
Keine strengere Betrachtung mit Reform des Sexualstrafrechts 2017
Mit der Einführung eines Auffangtatbestands der sexuellen Belästigung gab es Diskussionen, ob vor diesem Hintergrund die sexuelle Erheblichkeit strenger zu bewerten ist – dem gab der BGH eine klare Absage:
Die Einführung eines Auffangtatbestands für belästigend wirkende kör-perliche Berührungen in sexuell bestimmter Weise in § 184i Abs. 1 StGB wirkt sich nicht auf die Auslegung des Begriffs der Erheblichkeit in § 184h Nr. 1 StGB aus (anders aber El-Ghazi, ZIS 2017, 157, 160 f.; Lederer, AnwBl. 2017, 514, 517 f.). Der Gesetzgeber bezweckte mit der Einführung des § 184i StGB nicht, bisher von § 184h Nr. 1 StGB aF erfasste Verhaltensweisen aus dem Schutzbe-reich herauszulösen und diese nunmehr nur noch unter den dort genannten Voraussetzungen in § 184i StGB unter Strafe zu stellen (vgl. BGH, Urteil vom 26. April 2017 – 2 StR 574/16). Ziel der Neuregelung war es vielmehr, bisher strafrechtlich nicht erfasstes Verhalten auch unterhalb der Schwelle des § 184h Nr. 1 StGB zu pönalisieren (BT-Drucks. 18/9097 S. 30).
Dies verschärft der BGH (2 StR 574/16) in anderer Entscheidung auch im Hinblick auf die nunmehr geschlossene „Grauzone“:
Ein Einfluss auf die Auslegung des § 184h Nr. 1 StGB ergibt sich auch nicht dadurch, dass die Rechtsprechung bei der Prüfung der Erheblichkeit der sexuellen Handlung auf eine nach Art, Intensität und Dauer sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts abstellt, womit bisher eine Abgrenzung zwischen strafbaren und straflosem Verhalten verbunden war, nunmehr aber nur noch eine solche zwischen Tatbeständen gemäß §§ 174, 176, 177 StGB einerseits und demjenigen des § 184i StGB andererseits vorzunehmen ist. Denn dieser Begriff der „sozial nicht mehr hinnehmbaren Beeinträchtigung“ bezieht sich auf andere, weiterreichende Rechtsgüter als dasjenige, das von § 184i StGB geschützt ist.
Also: Bei Tatbeständen, die – wie § 176 Abs. 1 StGB – dem Schutz von Kindern und ihrer ungestörten sexuellen Entwicklung dienen, sind an das Merkmal der Erheblichkeit geringere Anforderungen zu stellen als bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Erwachsener. Lediglich unter diesem Gesichtspunkt unbedeutende Handlungen wie kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen belanglose Berührungen reichen insoweit nicht aus. In Grenzfällen bedarf es einer Gesamtwürdigung aller für das gefährdete Rechtsgut bedeutsamen Umstände, wobei insbesondere Art, Dauer und Intensität der Berührungen sowie der Handlungsrahmen zu berücksichtigen sind (BGH, 4 StR 72/22 und 1 StR 447/11).
Der Umstand, dass der Gesetzgeber den Straftatbestand des § 176 StGB durch das Gesetz zur Bekämpfung des sexuellen Kindesmissbrauchs vom 16. Juni 2021 (BGBl. I S. 1810) in den Rang eines Verbrechens erhoben hat, gebietet es nicht, die Erheblichkeitsschwelle anzuheben. Denn nach den Gesetzesmaterialien soll der Straftatbestand des § 176 StGB Kindern einen „absoluten Schutz“ vor sexuellen Handlungen gewähren (vgl. BT-Drucks. 19/23707, S. 38).
Um diese Schutzfunktion besser entfalten zu können, hat der Gesetzgeber ihn als Verbrechenstatbestand ausgestaltet (BT-Drucks. aaO, S. 2, 22). Würde man nun aber im Hinblick auf den Verbrechenscharakter höhere Anforderungen an die Erheblichkeit im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB stellen, liefe dies dem Willen des Gesetzgebers zuwider. Nichts anderes ergibt sich aus der Einführung der Absehensmöglichkeit des § 176 Abs. 2 StGB. Denn diese Regelung wurde mit Blick auf die notwendige sexuelle Entwicklung junger Menschen eingeführt und ist daher auf Fälle beschränkt, in denen Täter und Opfer etwa gleich alt sind (BT-Drucks. aaO, S. 38). Die Einführung des Auffangtatbestandes des § 184i StGB hat auch keine Auswirkungen auf das Kriterium der Erheblichkeit im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB (BGH, 2 StR 574/16 und 5 StR 218/22).
Keine sexuelle Erheblichkeit bei Berühren der Kleidung
Das bloße Berühren des Geschlechtsteils über der Kleidung ist für den BGH nicht ohne Weiteres als sexuelle Handlung im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB anzusehen (BGH, 2 StR 543/19).
Sexuelle Erheblichkeit bei Kindern
Bei Tatbeständen, die – wie § 176 Abs. 1 StGB – dem Schutz von Kindern dienen, sind an das Merkmal der Erheblichkeit geringere Anforderungen zu stellen als bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Erwachsener. So macht der BGH (2 StR 574/16) klar, dass auch bei Kindern keine überzogene Auslegungen zu besorgen sind:
Letztlich sind aber auch beim Schutz der sexuellen Selbstbestimmung von Kindern (§ 176 StGB) nicht sämtliche sexualbezogenen Handlungen, die sexuell motiviert sind, tatbestandsmäßig. Auszuscheiden sind vielmehr kurze oder aus anderen Gründen unbedeutende Berührungen (vgl. Senat, Beschluss vom 21. September 2016 – 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44).
Auch bei Kindern reichen aber kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen unbedeutende Berührungen, insbesondere auch der bekleideten Brust, dafür grundsätzlich nicht aus (BGH, 2 StR 558/15, 2 StR 490/18, 2 StR 543/19).
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