Inzwischen konnte sich mit dem OLG Schleswig (2 Ws 47/21) ein weiteres Oberlandesgericht zur Frage der Verwertbarkeit der Daten in Encrochat-Prozessen äussern – auch hier bleibt man im Ergebnis bei der bekannten Linie: Es gibt kein Beweisverwertungsverbot.
Hinweis: Zum Thema Kryptomessaging und Beweisverwertungsverbot findet sich von RA JF in der Literatur eine Darstellung bei §174 TKG Rn. 4, 35 im BeckOK-StPO (Beweisverwertungsverbot und EUGH-Rechtsprechung) sowie in jurisPR-StrafR 11/2023 Anm. 4 (LG Darmstadt)!
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Zulässigkeit des Zugriffs
Immer noch Streit besteht bei der Frage, inwieweit die Daten durch die französischen Behörden überhaupt rechtmässig gewonnen wurden. Die OLG – und so auch hier – erinnern dabei immer wieder an den Grundsatz, dass die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen beruht (Art. 82 Abs.2 AEUV). Soweit keine besonderen Anhaltspunkte bestehen, ist daher erst einmal von der Rechtsstaatlichkeit der französischen Ermittlungsmaßnahmen auszugehen.
Dabei hebt das OLG hervor, dass „in einem Europa der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ bei der justiziellen Zusammenarbeit Regeln einzuhalten sind – insoweit ist auf die RL 2014/41/EU, den Rahmenbeschluss 2006/960/JI, sowie die Kerngewährleistungen des Rechtsstaatsprinzips und des Grundrechtskatalogs zu erinnern.
Allerdings sieht das OLG die insoweit zu beachtenden Anforderungen als im Ergebnis gewahrt an:
Fehl geht zunächst der Einwand, der Erlass der Europäischen Ermittlungsanordnung am 2. Juni 2020 sei rechtsstaatswidrig verzögert worden, um den bereits zuvor eingeleiteten Datentransfer unkontrolliert und ungehemmt weiter laufen lassen zu können. Denn nicht nur erlaubt Art. 1 Abs. 1 Satz 2 der RL 2014/41/EU ausdrücklich auch den – nachgängigen – Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung in Bezug auf die Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaates befinden. Vielmehr erklärt sich die Zeitverschiebung nach Übermittlung der ersten Daten auch unschwer damit, dass diese Daten ohne weitere Ermittlungshandlungen allein noch keine präzisen Ermittlungsansätze liefern konnten. Umgekehrt spricht es vielmehr für eine gewisse Vorsicht der deutschen Behörden, den zunächst im Sinne des Art. 7 des Rahmenbeschlusses ohne Ersuchen – mithin „spontan“ – verlaufenden Datenzulauf zunächst noch weiter zu sichten. Anhaltspunkte für systemwidrige und gar absichtliche Verzögerungen liegen damit fern.
Insoweit war gerade vor dem Aspekt des Schutzes der Privatsphäre auch zu beobachten, auf welche Inhalte die Daten über die Kommunikation mittels der Krypto-Telefone sich wirklich bezogen. Wichtig und richtig war es daher festzustellen, dass – wie das Landeskriminalamt (…) mitgeteilt – hat „es in den Chats nur um Deliktisches“ gegangen sei – insbesondere um Drogengeschäfte – und „private Dinge so gut wie nicht besprochen“ worden seien. Wäre es anders gewesen, hätte ggf. der Datentransfer beendet werden müssen.
Damit verbleibt der Knackpunkt, dass Frankreich als überwachender Mitgliedstaat die zuständigen Behörden in Deutschland nicht förmlich von der Überwachung unterrichtet hatte, nachdem die französischen Behörden Kenntnis vom Aufenthalt von Zielpersonen in Deutschland erhalten hatten. Dies betrifft allerdings nicht den Beginn der Ermittlungen, da Zielpersonen zu Beginn ja die Betreiber von EncroChat selbst waren! Das aber änderte sich bekanntlich:
Je mehr aber die Nutzer in den Fokus rückten, hätte sich eine Unterrichtung angeboten, um eine Überprüfung nach den §§ 91 b Abs. 1 Nr. 1 bzw. § 59 Abs. 3 IRG mit § 100a ff. StPO zu ermöglichen (ebenso OLG Bremen, Beschluss vom 18. Dezember 2020 – 1 Ws 166/20 [hier bei uns] … OLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 – 1 Ws 2/21 [hier bei uns] …). Allerdings sieht das europäische Recht für einen derartigen Fall schon kein Verwertungsverbot vor. Insbesondere aber haben die deutschen Behörden die Daten verwendet, was – aus der Perspektive des europäischen Rechts – einer Heilung des europarechtlichen Verfahrensverstoßes gleichkommt.
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Verwertbarkeit der gewonnenen Daten
Auch aus Sicht des OLG Schleswig steht damit die Einhaltung der europa- und rechtshilferechtlichen Bestimmungen im Raum; die Ermittlungsergebnisse sind in dem in Deutschland eingeleiteten Verfahren dann mit dem OLG auch konkret verwertbar.
Die Verwertbarkeit mittels Rechtshilfe eines ausländischen Staates gewonnener Beweise richtet sich mit der Rechtsprechung des BGH nach der Rechtsordnung des um diese Rechtshilfe ersuchenden Staates, was nach Auffassung des OLG auch für Erkenntnisse gelten soll, die schon vor einem förmlichen Rechtshilfeersuchen in dem ersuchten Staat vorhanden waren. Da ist aus meiner Sicht nicht so ganz unstreitig, dürfte aber erwartbar vom BGH genauso gesehen werden.
Dies jedenfalls dann, wenn solche Daten spontan im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten übermittelt wurden. Das OLG kommt dann damit dahin, dass für die Verwertung der, vor einer genehmigten Europäischen Ermittlungsanordnung gewonnenen und übermittelten Daten, die Beweiserhebungs- und Verwertungsvorschriften der deutschen Strafprozessordnung maßgeblich sind. Damit sie auch grenzüberschreitende Sachverhalte erfassen können, sind sie entsprechend auszulegen.
Der sich aus der Verwertung der Daten ergebende Grundrechtseingriff finde, so das OLG; eine hinreichende grundrechtseinschränkende Rechtsgrundlage in § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO:
Danach dürfen gemäß §§ 100b und 100c StPO erlangte und verwertbare personenbezogene Daten in anderen Strafverfahren ohne Einwilligung der insoweit überwachten Personen „nur zur Aufklärung einer Straftat, aufgrund derer Maßnahmen nach §§ 100b und 100c StPO angeordnet werden könnten“, verwendet werden. Soweit der Wortlaut der Vorschrift an eine Datengewinnung schon auf Grundlage der §§ 100b und 100c StPO anknüpft, bedeutet dies allerdings nicht, dass eine Gewinnung bereits auf der Grundlage entsprechender Anordnungen erfolgt sein muss oder im Sinne eines hypothetischen Ersatzeingriffs hätten erfolgen können.
Mit dem Hanseatischen Oberlandesgericht (…) ist der Senat vielmehr der Auffassung, dass auch Zufallsfunde verwendet werden dürfen, wenn sie – was insbesondere die Deliktsschwere des Tatverdachts anbelangt – die Anordnung entsprechender Maßnahmen erlauben „könnten“. Hierfür streitet nicht nur – wie gezeigt – der Normwortlaut, sondern auch der in § 108 Abs. 1 Satz 2 StPO zum Ausdruck kommende Grundgedanke der Berücksichtigungsfähigkeit von Zufallsfunden und die Notwendigkeit eines grundrechtskonformen Ausgleichs zwischen einer effektiven Strafrechtspflege einerseits und dem Schutz des Einzelnen vor rechtsstaatlich nicht mehr tolerierbaren Grundrechtseingriffen andererseits.
Sinn und Zweck des § 100e Abs. 6 StPO ist es nämlich nicht, eine Verwertung solcher über den grenzübergreifenden Datenaustausch gewonnenen Zufallsfunde generell zu verhindern, wohl aber, sie im Sinne einer Abwehr einer uferlosen Weiterverwertung zu beschränken. Eine andere Betrachtungsweise liefe einer effektiven Strafrechtspflege zuwider, die nur dann gewährleistet ist, wenn Straftaten grundsätzlich auch grenzüberschreitend verfolgt werden können.
Ein rechtsstaatswidriger Missbrauch wird durch die Regelungen des IRG, die europarechtlichen Vorschriften und Abkommen und das förmlich ausgestaltete Rechtshilfeverfahren verhindert, deren auf eine gemeinsame Strafverfolgung und wechselseitige Unterstützung der Beitrittsstaaten ausgerichteten Regelungen auch die Beachtung der Individualrechte gewährleisten. Diese zwischenstaatlichen Vereinbarungen liefen aber ins Leere, würde ein Staat allein auf Zufallsfunde innerhalb seiner eigenen Strafverfahren beschränkt werden.
Ebenso berührt es die Anwendung von § 100e Abs. 6 StPO nicht, dass nach derzeitiger Sachlage nicht genau feststeht, mit welchen technischen Maßnahmen die französischen Behörden genau gearbeitet haben, ob also Telekommunikationsüberwachungen nach § 100a StPO, eine Online-Durchsuchung nach § 100b StPO, eine Kombination beider Maßnahmen oder eine Maßnahme eigener Art vorgenommen worden ist. Denn der Grundrechtsschutz wird dadurch am besten gewahrt, wenn die Regelungen für den potentiell intensivsten Eingriff angewandt werden, dies ist die in § 100e Abs. 6 StPO gerade auch erwähnte Online-Überwachung.
Im Ergebnis kommt man wieder dahin, wo bereits viele OLG stehen: Es gibt kein Beweisverwertungsverbot. Interessant ist am Rande noch die (zutreffende) Ausführung, dass eine Maßnahme gemäß § 100b Abs. 1 StPO nicht unverhältnismäßig wäre: Bei der Abwägung sei nicht auf die Gesamtmaßnahme, also die Überwachung sämtlicher EncroChat-Mobiltelefone, abzustellen – sondern vielmehr darauf, ob unter Berücksichtigung der gegebenen Verdachtslage eine Einzelmaßnahme gegen den jeweiligen Nutzer möglich gewesen wäre.
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