Wohnungsdurchsuchung aufgrund einer substanzlosen anonymen Anzeige

Eine Wohnungsdurchsuchung aufgrund einer substanzlosen anonymen Anzeige verstößt gegen Art. 13 Abs. 1, Abs. 2 GG, wie das klargestellt hat (2 BvR 2474/14).

Anonyme Anzeigen

Es gilt der Grundsatz, dass aufgrund der verfassungsrechtlichen Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) die räumliche Lebenssphäre des Einzelnen einen besonderen grundrechtlichen Schutz genießt, in den eine schwerwiegend eingreift. Zur Rechtfertigung eines Eingriffs in die Unverletzlichkeit der Wohnung zum Zwecke der Strafverfolgung ist daher der Verdacht einer Straftat erforderlich. Dieser Anfangsverdacht muss auf konkreten Tatsachen beruhen; vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen genügen nicht. Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, wenn sich keine objektiv hinreichenden Gründe für eine Durchsuchung finden lassen.

Hinweise anonymer Hinweisgeber sind als Verdachtsquelle für die Aufnahme weiterer Ermittlungen nicht generell ausgeschlossen. Ein solcher genereller Ausschluss widerspräche dem zentralen Anliegen des Strafverfahrens, nämlich der Ermittlung der materiellen Wahrheit in einem justizförmigen Verfahren als Voraussetzung für die Gewährleistung des Schuldprinzips:

Bei anonymen Anzeigen müssen die Voraussetzungen des § 102 StPO im Hinblick auf die schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten aber wegen der erhöhten Gefahr und des nur schwer bewertbaren Risikos einer falschen Verdächtigung besonders sorgfältig geprüft werden (vgl. z.B. LG Offenburg, Beschluss vom 15. September 1997 – Qs 114/97 -, StV 1997, S. 626 f.; LG Regensburg, Beschluss vom 5. Februar 2004 – 1 Qs 111/03 -, StV 2004, S. 198; LG Karlsruhe, Beschluss vom 22. August 2005 – 2 Qs 65/05 -, StraFo 2005, S. 420 f.; LG Bad Kreuznach, Beschluss vom 10. Dezember 2014 – 2 Qs 134/14 -, StraFo 2/2015, S. 64 f.).

Bei der Prüfung des Tatverdachts und der Verhältnismäßigkeitsabwägung sind insbesondere der Gehalt der anonymen Aussage sowie etwaige Gründe für die Nichtoffenlegung der Identität der Auskunftsperson in den Blick zu nehmen; als Grundlage für eine stark in Grundrechtspositionen eingreifende Zwangsmaßnahme wie eine Durchsuchung kann eine anonyme Aussage nur genügen, wenn sie von beträchtlicher sachlicher Qualität ist oder mit ihr zusammen schlüssiges Tatsachenmaterial vorgelegt worden ist (vgl. z.B. BGHSt 38, 144 7 Qs 71/07 -, juris, Rn. 31).

BVerfG, 2 BvR 2474/14

Dokumentation des Verfahrens

Um eine solche sachgerechte richterliche Prüfung zu gewährleisten, ist es erforderlich, dass die Ermittlungsbehörden (Staatsanwaltschaft/Polizei) die Einhaltung des Grundsatzes der Aktenwahrheit und Aktenvollständigkeit sicherstellen. Dieser Grundsatz bedarf keiner ausdrücklichen gesetzlichen Regelung, da er sich bereits aus der Bindung der Verwaltung (und der Justiz) an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) und der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Objektivitätspflicht ergibt:

Letzterer sind auch die Staatsanwaltschaft und Polizei in besonderem Maße verpflichtet. Die Strafprozessordnung enthält in § 163 Abs. 2 Satz 1, § 168b Abs. 1 und § 199 Abs. 2 Satz 2 Ausprägungen dieses Grundsatzes der Aktenvollständigkeit.

Insbesondere gilt die Bestimmung des § 168b Abs. 1 StPO, wonach das Ergebnis staatsanwaltschaftlicher Untersuchungen aktenkundig zu machen ist, auch für polizeiliche Untersuchungshandlungen entsprechend. Aus den Akten muss sich ergeben, welche konkreten Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt worden sind und welchen Erfolg sie gehabt haben (vgl. Sing/Vordermayer, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier, , 2. Aufl. 2016, § 168b Rn. 1; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20. September 1990 – 2 VAs 1/90 -, juris, Rn. 21; LG Berlin, Urteil vom 18. November 1985 – 1 Op Js 148/85 KLs (58/85) -, StV 1986, S. 96; vgl. auch Erb, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2007, § 168b Rn. 2a, § 163 Rn. 78 und § 160 Rn. 62).

Da das ein schriftliches Verfahren ist, muss jedes mit der Sache befasste Ermittlungsorgan, auch das Gericht, wenn es im Vorverfahren oder im gerichtlichen Verfahren tätig wird, das bisherige Ergebnis des Verfahrens und seine Entwicklung erkennen können (Erb, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2007, § 168b Rn. 1). Es steht dabei nicht im Belieben der Ermittlungsbehörden, ob sie strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen in den Akten vermerken und zu welchem Zeitpunkt sie dies tun. Das Gericht muss den Gang des Verfahrens – auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK – ohne Abstriche nachvollziehen können (BGH, Urteil vom 11. Dezember 2013 – 5 StR 240/13 -, juris, Rn. 46).

Einzelheiten der Durchführung und des Verlaufs von Untersuchungshandlungen müssen in der Regel nicht notwendig angegeben werden. Geboten ist dies aber, wenn das Ergebnis einer näheren Begründung bedarf oder die Umstände, die zu ihm geführt haben, für das weitere Verfahren festgehalten werden müssen (Erb, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2007, § 168b Rn. 6). Es muss in einem rechtsstaatlichen Verfahren jedenfalls schon der bloße Anschein vermieden werden, die Ermittlungsbehörden wollten etwas verbergen (vgl. BGH, Urteil vom 11. Dezember 2013 – 5 StR 240/13 -, juris, Rn. 46 und BGH, Beschluss vom 2. September 2015 – 5 StR 312/15 -, BeckRS 2015, 15773).

BVerfG, 2 BvR 2474/14
Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften.

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