Der 1. Senat des Bundesgerichtshofs (1 StR 474/19) konnte sich eindeutig gegen die seinerzeit sehr überraschende Entscheidung des 5. Senats postieren, in welcher dieser für die Konstellation der hypothetischen Kausalität – hinsichtlich des Wissenselements des Vorsatzes – verlangt hatte, dass dem Täter bewusst sein muss, dass der (Rettungs-)Erfolg mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit eintreten würde.
Update: Der 5. Senat hält seine Rechtsprechung nicht mehr aufrecht!
Entscheidung des 5. Senats
Die Entscheidung des 5. Senats, Aktenzeichen 5 StR 20/16, ist seinerzeit auf ganz erhebliche Kritik gestoßen, da dieser Rechtsprechung mitunter auch zu seltsamen Ergebnissen führen könnte (dazu nur Rissing-van Saan/Verrel in NStZ 2018, 57). Die damalige Entscheidung, die eindeutig Wertungsorientiert war, führte im Ergebnis zu einer Änderung der Rechtsprechung zum Vorsatz in allen Fällen, in denen – wie bei pflichtwidrigem Unterlassen oder einem Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf – bei der rechtlichen Bewertung ein hypothetischer Kausalverlauf an die Stelle einer durch aktives Tun tatsächlich in Gang gesetzten Kausalkette tritt.
Dem trat der 1. Senat – und es war zu erwarten – mit harten Worten entgegen (dazu inzwischen auch die Anmerkung von Magnus in NStZ 2022, 545, 548 beachten!):
Die Verengung des Vorsatzes auf sicheres Wissen über hypothetische Kausalverläufe bedeutet eine grundlegende Abkehr von der bisher geltenden Dogmatik insbesondere in Unterlassungsfällen (…) Insoweit reicht nach der bisherigen Rechtsprechung bei dem Versuch eines Totschlags nach § 212 StGB bei einer Tatbegehung durch aktives Tun ebenso wie durch Unterlassen aus, dass der Täter den Eintritt des Todes nur für möglich hält.
Einen Grund für eine Modifikation der Anforderungen an den Vorsatz bei hypothetischen Kausalverläufen und damit auch für eine Differenzierung der Vorsatzerfordernisse bei aktivem Tun und bei Unterlassen nennt der 5. Strafsenat nicht; ein solcher ist auch nicht erkennbar. Die vom 5. Strafsenat zitierten Entscheidungen stützen nicht seine These, der Vorsatz verlange in Fällen der „Quasi-Kausalität“ ein sicheres Wissen des Täters dahingehend, dass der (Rettungs-)Erfolg mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit eintreten würde (…).
Der 5. Strafsenat vermischt vielmehr Fragen des Vorsatzes mit Fragen des Beweismaßes für die Feststellung der – dem objektiven Tatbestand zuzuordnenden – (hypothetischen) Kausalität (…).
Bundesgerichtshofs, 1 StR 474/19
Anmerkung: Die damalige Entscheidung des 5. Senats war aus Verteidiger-Sicht sicherlich erfreulich, aber dogmatisch schwerlich nachvollziehbar. Bei mir blieb bis heute der Eindruck, dass man den aus Mitleid und nicht Eigennützigen Motiven handelnden Arzt auf Biegen und Brechen seinerzeit aus der Strafbarkeit heraus halten wollte.
Dafür aber wäre wohl von Anfang an die Schuld-Ebene geeigneter gewesen. Hier hätte man durchaus auch neue Wege gehen könnte, etwa mit konkreten Unzumutbarkeitserwägungen im Einzelfall unter Berücksichtigung der erheblichen emotionalen Belastung die ein Arzt mitunter ertragen muss. Dies wäre sicherlich bereichernder für die Rechtsprechung gewesen, als eine Entscheidung, die von Anfang an derart „zerrissen“ wurde.
Update: November 2022, der 5. Senat gibt seine Rechtsprechung auf!
Überraschend und nur in einem Nebensatz beim 4. Senat ist zu bemerken, dass der 5. Senat die viel kritisierte Entscheidung selber infrage stellt. Es gilt nunmehr wieder Senatsübergreifend, dass bei einem durch Unterlassen verwirklichten versuchten Tötungsdelikt der Tatentschluss in Bezug auf die hypothetische Kausalität in kognitiver Hinsicht lediglich voraussetzt, dass der Täter den Eintritt eines Rettungserfolgs für möglich hält:
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat mit Beschluss vom 27. September 2022 (5 ARs 34/22) mitgeteilt, dass er der Rechtsauffassung des anfragenden Senats beitritt und an entgegenstehender eigener Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 28. Juni 2017 – 5 StR 20/16, BGHSt 62, 223) nicht festhält.
BGH, 4 StR 200/21
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