Die Frage der Zulässigkeit von Funkzellenabfragen und ihrer Verwertung als Beweismittel beschäftigt zunehmend die Gerichte. Insbesondere die Vereinbarkeit mit Grundrechten und der Anwendungsbereich von § 100g Abs. 3 StPO stehen dabei im Fokus. In seiner Entscheidung vom 06.06.2024 (Az.: 621 Qs 32/24) hat das Landgericht Hamburg die rechtlichen Rahmenbedingungen einer Funkzellenabfrage erörtert und sich ausdrücklich von einer jüngeren Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH, hier bei uns) distanziert.
Sachverhalt
Im vorliegenden Fall ging es um Ermittlungen zu bandenmäßigen Betrugsstraftaten, bei denen Täter ältere Menschen durch den sogenannten „Enkeltrick“ betrogen hatten. Um die Täter zu ermitteln, beantragte die Staatsanwaltschaft Hamburg die Anordnung einer Funkzellenabfrage nach § 100g Abs. 3 StPO. Dabei sollten die Verkehrsdaten sämtlicher Mobilgeräte erfasst werden, die sich im Tatzeitraum in einer bestimmten Funkzelle befanden.
Rechtliche Analyse
Das LG Hamburg entschied zugunsten der Staatsanwaltschaft und ordnete die Funkzellenabfrage an. Dabei setzte sich das Gericht intensiv mit der entgegenstehenden Rechtsprechung des BGH auseinander und lehnte diese in entscheidenden Punkten ab. Der BGH hatte in einem Beschluss vom Januar 2024 (Az.: 2 StR 171/23) argumentiert, dass für eine Funkzellenabfrage auch der Verdacht einer Katalogstraftat nach § 100g Abs. 2 StPO vorliegen müsse.
Das Landgericht Hamburg schloss sich dieser Ansicht jedoch nicht an und führte aus, dass der Katalog des § 100g Abs. 2 StPO für Funkzellenabfragen nach § 100g Abs. 3 StPO gerade nicht einschlägig sei. Vielmehr stelle § 100g Abs. 3 eine eigenständige Norm dar, die an andere Voraussetzungen anknüpfe. Während der BGH die Funkzellenabfrage mit der Erhebung von Standortdaten gleichsetzte, betonte das LG Hamburg die Unterschiede: Eine Funkzellenabfrage erfasse nicht gezielt die Bewegungen einzelner Verdächtiger, sondern alle Mobilgeräte in einer bestimmten Funkzelle, was einen grundsätzlichen Unterschied zur gezielten Standortdatenerhebung darstelle.
Kritik am BGH
Das LG Hamburg setzte sich ausführlich mit der Argumentation des BGH auseinander und wies darauf hin, dass dessen Schlussfolgerungen weder aus dem Wortlaut noch aus der Systematik des Gesetzes abzuleiten seien. Die Kammer betonte, dass § 100g Abs. 3 StPO in Bezug auf Funkzellenabfragen eigenständige und klar umrissene Voraussetzungen enthalte. Ein Rückgriff auf § 100g Abs. 2 StPO sei nur bei der Abfrage von Vorratsdaten vorgesehen, nicht aber bei Funkzellenabfragen:
Die Kammer schließt sich damit der jüngsten Entscheidung des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zu den Voraussetzungen einer Funkzellenabfrage nicht weiter an (vgl. BGH, Beschluss vom 10.01.2024 – 2 StR 171/23 = BeckRS 2024, 10088) und hält an ihrer in den Beschlüssen vom 23.05.2024 (Az.: 621 Qs 28/24) und vom 24.05.2024 (Az.: 621 Qs 29/24) noch vertretenen Rechtsansicht nicht weiter fest.
Der Beschluss des 2. Strafsenats lässt bereits im Ausgangspunkt unerwähnt (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 14), dass die darin postulierte Auffassung, eine Funkzellenabfrage nach § 100g Abs. 3 S. 1 StPO setze den Verdacht einer besonders schweren Straftat aus dem Katalog des § 100g Abs. 2 StPO voraus, der – soweit ersichtlich – bislang herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur widerspricht (vgl. etwa LG Stade, Beschluss vom 26.10.2018 – 70 Qs 133/18 = BeckRS 2018, 27043; Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 66. Auflage 2023, § 100g, Rn. 36-38; Bär, in: BeckOK-StPO, 51. Edition, Stand: 01.04.2024, § 100g, Rn. 50; Henrichs/Weingast, in: KK-StPO, 9. Auflage 2023, § 100g Rn. 12, jeweils m.w.N.).
Die Auffassung des 2. Strafsenats, wonach es für die Anordnung einer Funkzellenabfrage gemäß § 100g Abs. 3 S. 1 StPO des Verdachts einer Katalogstraftat nach § 100g Abs. 2 StPO bedarf, findet im Wortlaut (1.) und der Systematik (2.) des Gesetzes sowie nach historischer (3.) und teleologischer (4.) Auslegung keine Stütze. Auch eine analoge Anwendung des § 100g Abs. 2 StPO scheidet aus (5.).
Der Wortlaut des § 100g Abs. 3 S. 1 Nr. 1 StPO ist eindeutig. Der Verweis aus § 100g Abs. 3 S. 1 Nr. 1 StPO zielt explizit allein auf § 100g Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO und damit (mittelbar) allein auf den indiziell anzuwendenden Katalog des § 100a Abs. 2 StPO. Es erfolgt in § 100g Abs. 3 S. 1 StPO gerade kein expliziter Verweis auf den gesamten § 100g Abs. 1 S. 1 StPO und schon gar keiner auf § 100g Abs. 1 S. 3 StPO (so auch LG Stade, BeckRS 2018, 27043, Rn. 7).
Die Kammer verkennt nicht, dass innerhalb des § 100g Abs. 1 StPO für retrograde Standortdaten die Vorschrift des § 100 Abs. 1 S. 3 StPO zur Anwendung kommt (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 16). Der § 100g Abs. 3 S. 1 StPO verweist aber gerade nicht auf den § 100g Abs. 1 StPO insgesamt, sondern explizit nur auf § 100g Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO (vgl. § 100g Abs. 3 S. 1 Nr. 1 StPO).
Daran ändert auch nichts, dass § 100g Abs. 3 S. 1 StPO die Funkzellenabfrage als „die Erhebung aller in einer Funkzelle angefallenen Verkehrsdaten“ legaldefiniert, wie der 2. Strafsenat betont (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 16). Dieser Lesart ist zwar zuzugeben, dass sich unter den „angefallenen Verkehrsdaten“ in aller Regel auch gespeicherte Standortdaten befinden dürften (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 16, ebenso LG Stade, a.a.O., Rn. 6). Auch daraus folgt aber nicht die Anwendbarkeit des § 100g Abs. 2 StPO auf § 100g Abs. 3 S. 1 StPO. Denn die Geltung des Katalogs in § 100g Abs. 2 StPO wird von § 100g Abs. 1 S. 3 StPO seinem Wortlaut nach nur für Erhebungen retrograder Standortdaten „nach diesem“ – also dem ersten – „Absatz“ des § 100g StPO angeordnet. Bei der Funkzellenabfrage nach § 100g Abs. 3 StPO handelt es sich um einen anderen, eigenständigen Absatz, der eigene Voraussetzungen aufstellt und zudem in § 100g Abs. 3 S. 2 StPO abschließend regelt, wann der Katalog des § 100g Abs. 2 StPO für Funkzellenabfragen gelten soll.
Auch die teleologische Auslegung unterstütze die Auffassung des LG Hamburg. Ziel der Funkzellenabfrage sei es, Ermittlungsansätze zu schaffen, indem überprüft werde, welche Mobilgeräte sich in einem bestimmten Zeitraum in der Funkzelle befanden. Dies diene der Ermittlung unbekannter Täter und sei unter strengen Verhältnismäßigkeitskriterien zulässig.
Ergebnis
Das LG Hamburg widersetzte sich der restriktiveren Auffassung des BGH und entschied, dass eine Funkzellenabfrage nicht auf den Verdacht von Katalogstraftaten beschränkt sei. Die Entscheidung betont die Bedeutung der Funkzellenabfrage als Ermittlungsinstrument, das besonders in Fällen wie dem vorliegenden „Enkeltrick-Betrug“ oft den einzigen Ermittlungsansatz darstelle. Die Kammer sah in der Funkzellenabfrage ein verhältnismäßiges Mittel zur Ermittlung und lehnte ein Beweisverwertungsverbot ab.
Die Entscheidung des LG Hamburg markiert einen wichtigen Punkt in der Debatte um die Reichweite und Zulässigkeit von Funkzellenabfragen. Während der BGH strengere Voraussetzungen fordert, betont das LG Hamburg die eigenständige Bedeutung des § 100g Abs. 3 StPO und weist auf die strikten Verhältnismäßigkeitsanforderungen hin, die ein Grundrechtseingriff wie eine Funkzellenabfrage immer erfüllen muss.
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