Reichweite des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB bei nicht indizierten Heileingriffen: Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 19. Dezember 2023 (4 StR 325/23) wirft ein scharfes Licht auf ein bislang strafrechtlich nur selten beleuchtetes Phänomen: ärztlich durchgeführte Eingriffe ohne medizinische Indikation, initiiert durch Täuschung der Sorgeberechtigten.
Der Fall selbst ist von einer extremen menschlichen Tragik geprägt: Eine Mutter mit einem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom veranlasste mehrere schwerwiegende medizinische Prozeduren an ihren gesunden Kindern – einzig, um sich selbst als fürsorglich und leidtragend zu inszenieren. Der BGH hatte nun die Frage zu klären, ob die bei diesen Eingriffen verwendeten chirurgischen Instrumente als „gefährliche Werkzeuge“ im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB gelten können. Die Entscheidung markiert eine dogmatisch bedeutsame Abkehr von früherer Rechtsprechung und hat weitreichende Konsequenzen für das ärztliche Strafrecht.
Sachverhalt
Die Angeklagte, Mutter dreier Kinder, leidet an einer artifiziellen Störung in Form eines Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms. Um sich soziale Anerkennung als pflegeintensive Mutter zu verschaffen, täuschte sie über Jahre hinweg gegenüber medizinischem Personal schwerwiegende Krankheitssymptome bei ihren Töchtern vor. Diese Täuschungen führten unter anderem zur operativen Anlage eines künstlichen Darmausgangs sowie einer PEG-Sonde – jeweils ohne medizinische Indikation, aber unter fachärztlicher Ausführung. In einem weiteren Fall verweigerte sie ihrer Tochter gezielt die Sondennahrung, um deren Untergewicht zu provozieren. Das Landgericht Paderborn verurteilte sie wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Die Revision blieb erfolglos.
Juristische Analyse
Die zentrale Rechtsfrage: Chirurgische Instrumente als gefährliche Werkzeuge
Kern der revisionsrechtlichen Überprüfung war die Frage, ob die im Rahmen fachgerecht durchgeführter medizinischer Eingriffe verwendeten chirurgischen Instrumente im konkreten Fall die Qualifikation der gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB tragen. Die Vorinstanz hatte diese Eingriffe unter die Variante der „das Leben gefährdenden Behandlung“ subsumiert (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB). Der BGH hingegen verneint das Vorliegen dieser Variante mangels hinreichender Feststellungen zum subjektiven Vorstellungsbild der Angeklagten hinsichtlich der Lebensgefahr – bejaht aber den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung durch ein gefährliches Werkzeug.
Der Senat definiert ein gefährliches Werkzeug traditionell als einen Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und konkreten Verwendungsweise geeignet ist, erhebliche Verletzungen zuzufügen. Dies treffe – so der BGH – auch auf chirurgisches Instrumentarium zu, selbst wenn dieses regelgerecht durch approbierte Ärzte genutzt wird, sofern der Eingriff medizinisch nicht indiziert war. Entscheidend ist allein die konkrete Gefährlichkeit im Einzelfall, nicht die generelle Zweckbestimmung des Instruments.
Abgrenzung zur früheren Rechtsprechung zu § 223a StGB a.F.
Der BGH grenzt sich ausdrücklich von seiner früheren Rechtsprechung zur Vorgängernorm § 223a StGB a.F. ab. Diese hatte ärztliches Instrumentarium – bei bestimmungsgemäßem Einsatz durch approbierte Ärzte – nicht als gefährliches Werkzeug anerkannt, solange kein Angriffs- oder Verteidigungszweck vorlag. Diese Voraussetzung entfällt in der heutigen Gesetzeslage. § 224 StGB seit 1998 enthält mit dem „anderen gefährlichen Werkzeug“ keinen Verweis mehr auf Waffeneigenschaft. Vielmehr stellt die Waffe heute einen Unterfall des gefährlichen Werkzeugs dar. Der Wortlaut spricht somit gegen eine Beschränkung auf Angriffs- oder Verteidigungssituationen.
Der BGH verweist ergänzend auf die systematische Einbettung dieses Tatbestands in weitere Delikte (§§ 244, 250, 177 StGB), bei denen ebenfalls kein spezifischer Verteidigungszweck erforderlich ist. Damit stellt er klar, dass medizinisches Gerät bei nicht indizierten Eingriffen auch dann unter § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB fallen kann, wenn es von einem approbierten Arzt eingesetzt wird.
Dogmatische und teleologische Erwägungen
Auch teleologisch überzeugt die Einbeziehung medizinischer Instrumente: Die Qualifikationstatbestände des § 224 StGB zielen auf eine besondere Gefährlichkeit der Tatausführung ab. Diese kann auch dann vorliegen, wenn ein ärztlicher Eingriff ohne medizinische Indikation durchgeführt wird – denn das Risiko erheblicher Schäden ist unabhängig von der Professionalität des Ausführenden.
Der Senat betont zudem, dass das Motiv der Angeklagten – nämlich die soziale Aufwertung durch die Erkrankung ihrer Kinder – ein Vertrauen auf den Erfolg der Eingriffe nicht ausschließt. Vielmehr zeige ihr strukturiertes und planvolles Verhalten, dass sie deren Risiko bewusst einkalkulierte.
Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB) und Schuldfähigkeit
Neben § 224 StGB bejaht der BGH eine Strafbarkeit wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Die Qualifikation der „rohen Misshandlung“ sei gegeben, da die Angeklagte mit gefühlloser Gesinnung handelte, also das notwendige empathische Hemmnis gegenüber dem Leiden der Kinder verloren hatte. Diese Einschätzung stützt sich auf eine sorgfältige Auseinandersetzung mit dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, das zwar pathologisch ist, aber nicht automatisch die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB ausschließt.
In der Tat verneint die Strafkammer, sachverständig beraten, eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit. Die Entscheidung beruht auf einer ausführlichen Gesamtbetrachtung der Lebensumstände, psychischen Stabilität und Handlungsplanung der Angeklagten. Der BGH hält diese Einschätzung für tragfähig.
Bilanz
Die Entscheidung des 4. Strafsenats stellt eine dogmatisch und systematisch bemerkenswerte Präzisierung der Tatbestandsmerkmale des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB dar. Erstmals wird höchstrichterlich anerkannt, dass auch medizinische Instrumente, eingesetzt durch approbierte Ärzte, als gefährliche Werkzeuge zu qualifizieren sind, wenn die Eingriffe nicht medizinisch indiziert sind und vom Täter gezielt herbeigeführt wurden. Der Beschluss setzt sich überzeugend von älterer Rechtsprechung ab, reflektiert die gewandelte Systematik des Tatbestands und öffnet zugleich den Blick für die komplexe Wirklichkeit psychisch motivierter Gewalttaten.
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