Zuständigkeitsbegründung im Jugendstrafverfahren

Zuständigkeitsfragen sind im Jugendstrafverfahren nicht bloß formaler Natur, sondern berühren zentrale rechtsstaatliche Gewährleistungen – insbesondere das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. In seinem Beschluss vom 5. März 2025 (3 StR 230/24) hatte der Bundesgerichtshof über die revisionsgerichtliche Kontrolle einer Eröffnungsentscheidung zu befinden, bei der eine große Jugendkammer durch analoge Anwendung des § 41 Abs. 1 Nr. 2 JGG ihre Zuständigkeit begründet hatte – obwohl die formellen Voraussetzungen hierfür nicht vorlagen.

Der BGH weist die Revisionen zurück, grenzt sich aber deutlich vom Vorgehen des Landgerichts Trier ab. Die Entscheidung bietet damit Gelegenheit zur dogmatischen Klärung der Funktion und Reichweite der Zuständigkeitsregelungen des Jugendgerichtsgesetzes und ihrer verfassungsrechtlichen Einbettung.

Sachverhalt

Im Zentrum stand ein komplexes Strafverfahren gegen insgesamt elf Beschuldigte – darunter ein Erwachsener sowie mehrere Jugendliche und Heranwachsende –, das ein tätliches Geschehen anlässlich des „Weiberkarnevals“ im Februar 2023 in Trier betraf. Im Verlauf einer Auseinandersetzung vor einer Diskothek kam es zu Angriffen auf Polizeibeamte, unter anderem durch Faustschläge und das Bewerfen mit Flaschen und Besenstielen. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage unmittelbar zur großen Jugendkammer des Landgerichts Trier und berief sich dabei auf den besonderen Umfang und die überregionale Bedeutung des Verfahrens. Die Angeklagten rügten im Zwischenverfahren die sachliche Unzuständigkeit des Landgerichts, das gleichwohl das Hauptverfahren eröffnete. Nach umfangreicher Beweisaufnahme erfolgte die Verurteilung zu teils erzieherischen Maßnahmen, teils Jugendstrafen. Mit ihren Revisionen beanstandeten die Verurteilten unter anderem die unterbliebene Vorlage an das Jugendschöffengericht.

Juristische Analyse

§ 41 Abs. 1 Nr. 2 JGG – kein Instrument richterlicher Selbstermächtigung

Die entscheidende dogmatische Frage betraf die Anwendung von § 41 Abs. 1 Nr. 2 JGG. Danach wird die große Jugendkammer nur dann zuständig, wenn das Jugendschöffengericht im Zwischenverfahren eine Vorlage anordnet, weil die Sache wegen ihres besonderen Umfangs oder ihrer besonderen Bedeutung eine solche Übernahme rechtfertigt. Im konkreten Fall war es aber zu keiner solchen Vorlage gekommen – die Staatsanwaltschaft hatte vielmehr unmittelbar bei der Jugendkammer Anklage erhoben.

Das Landgericht begründete seine Zuständigkeit dennoch unter analoger Heranziehung von § 41 Abs. 1 Nr. 2 JGG und sah sich durch obergerichtliche Entscheidungen gestützt. Der BGH hält dies zwar für rechtsfehlerhaft, jedoch nicht für willkürlich. Maßgeblich sei, dass sich das Landgericht eingehend mit der Rechtslage auseinandergesetzt und seine Entscheidung in vertretbarer Weise begründet habe. Zwar gebe es keine planwidrige Regelungslücke, welche die analoge Anwendung rechtfertigen könnte – schon wegen der eindeutigen Gesetzesbegründung, die eine unmittelbare Anklage bei der Jugendkammer gerade nicht gestatten will. Gleichwohl scheitere die Entscheidung nicht an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, da sie nicht jeden sachlichen Grund entbehre.

Der Senat macht unmissverständlich klar: Die Zuständigkeit der Jugendkammer kann nur durch gesetzlich geregelte Verfahren entstehen. Die von der Staatsanwaltschaft gewählte Verfahrensgestaltung unterläuft das gesetzgeberische Leitbild, wonach das Jugendschöffengericht die Kompetenz zur Abgabeentscheidung besitzt. Eine richterliche Kompetenz, diesen Mechanismus durch Analogie zu ersetzen, besteht nicht. Die Entscheidung verdeutlicht damit zugleich, dass sich aus dem materiellen Gehalt des gesetzlichen Richters ein Verbot unzulässiger Zuständigkeitsfiktionen ergibt.

Kein Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters

Trotz der rechtsfehlerhaften Herleitung bejaht der BGH im Ergebnis die Zuständigkeit des Landgerichts. Nach § 269 StPO in Verbindung mit § 2 Abs. 2 JGG gilt: Die weitergehende Zuständigkeit eines höheren Gerichts umfasst stets diejenige des nachrangigen Gerichts. Solange die Entscheidung nicht objektiv willkürlich ist, bleibt sie revisionsrechtlich unbeachtlich. Der Senat legt die Maßstäbe hierfür detailliert dar und betont: Eine unrichtige Anwendung des einfachen Rechts verletzt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erst dann, wenn sie unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar ist.

Diese Schwelle sei hier nicht erreicht. Das Landgericht habe sich auf obergerichtliche Rechtsprechung (etwa OLG Dresden) bezogen und das Vorliegen eines besonderen Umfangs mit konkreten Umständen – etwa der Anzahl der Angeklagten, der Zeugen und der Beweismittel – belegt. Auch die unterbliebene Abtrennung des Verfahrens gegen den erwachsenen Mitangeklagten sei ermessensfehlerfrei erfolgt, da der Tatkomplex als einheitlich zu bewerten war.

Verzicht auf Abgabe an das Jugendschöffengericht und Rückverweisung: kein verfahrensrechtlicher Mangel

Die Entscheidung enthält zudem eine Klarstellung zur Möglichkeit, durch Rückverweisung an das Jugendschöffengericht den gesetzlichen Zuständigkeitsweg nachträglich zu korrigieren. Zwar sei eine solche Lösung – über § 209 StPO mit anschließender Vorlage nach § 40 Abs. 2 JGG – denkbar gewesen, aber nicht geboten. § 41 Abs. 1 Nr. 2 JGG verlangt eine Vorlage „bis zur Eröffnung“; nachträgliche Korrekturen widersprächen der gesetzlich intendierten Konzentration der Zuständigkeitsprüfung im Zwischenverfahren.

In diesem Zusammenhang betont der BGH erneut die Rolle der Verfahrensökonomie: Wenn die Kammer unter Bezugnahme auf sachliche Kriterien die Zuständigkeit bejaht und das Verfahren durchführt, wird dem Schutzgedanken des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bereits Genüge getan – auch ohne verfahrensformalistische Korrekturschleifen.

Bilanz

Der Beschluss 3 StR 230/24 unterstreicht die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Zuständigkeitsbegründung im Jugendstrafverfahren. Der BGH rügt deutlich die rechtsfehlerhafte analoge Anwendung des § 41 Abs. 1 Nr. 2 JGG, lässt die Eröffnungsentscheidung jedoch mangels Willkür im Ergebnis bestehen. Damit festigt er das Prinzip, dass Zuständigkeiten im Jugendstrafrecht ausschließlich auf gesetzlicher Grundlage geschaffen werden können – und mahnt zugleich zur Zurückhaltung bei kreativen Verfahrensgestaltungen durch Staatsanwaltschaft oder Gericht. Die Entscheidung stärkt das Vertrauen in eine regelgebundene Justiz, ohne den Blick für die praktische Handhabbarkeit komplexer Großverfahren zu verlieren.

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Rechtsanwalt Jens Ferner ist erfahrener Fachanwalt für Strafrecht sowie Fachanwalt für IT-Recht mit über einem Jahrzehnt Berufspraxis und widmet sich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht - mit Schwerpunkten in Cybercrime, Cybersecurity, Softwarerecht und Managerhaftung. Er ist zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht sowie zur EU-Staatsanwaltschaft. Als Softwareentwickler ist er in Python zertifiziert und hat IT-Handbücher geschrieben.

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Rechtsanwalt Jens Ferner ist erfahrener Fachanwalt für Strafrecht sowie Fachanwalt für IT-Recht mit über einem Jahrzehnt Berufspraxis und widmet sich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht - mit Schwerpunkten in Cybercrime, Cybersecurity, Softwarerecht und Managerhaftung. Er ist zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht sowie zur EU-Staatsanwaltschaft. Als Softwareentwickler ist er in Python zertifiziert und hat IT-Handbücher geschrieben.

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