Zweifelssatz bei Anwendung des § 20 StGB

Die Frage der Schuldfähigkeit ist ein zentraler Aspekt im deutschen Strafrecht. Besonders bei Vorliegen einer möglichen schuldmindernden oder -ausschließenden Beeinträchtigung, wie sie in § 20 StGB geregelt ist, spielt der Zweifelssatz eine entscheidende Rolle.

Der (BGH) hat in einem aktuellen Urteil (Az.: 5 StR 196/23) am 31. Januar 2024 klargestellt, welche Anforderungen an die Anwendung des Zweifelssatzes bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit nach § 20 StGB zu stellen sind. Dieser Blog-Beitrag untersucht die Entscheidung und beleuchtet die Bedeutung des Zweifelssatzes in diesem Kontext.

Sachverhalt

Im vorliegenden Fall hatte der Angeklagte unter dem Einfluss von und Drogen einen Bekannten mit einem Cuttermesser angegriffen und schwer verletzt. Das Landgericht Hamburg sprach ihn vom Vorwurf des versuchten Mordes frei, da nicht auszuschließen sei, dass seine Steuerungsfähigkeit infolge einer Mischintoxikation aufgehoben war. Die Staatsanwaltschaft legte Revision ein, die vom BGH als begründet angesehen wurde.

Rechtliche Analyse

Anwendung des Zweifelssatzes

Der Zweifelssatz, auch bekannt als in dubio pro reo-Grundsatz, besagt, dass bei Zweifeln zugunsten des Angeklagten entschieden werden muss. Dies gilt auch bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit nach § 20 StGB, der die Schuldunfähigkeit bei Vorliegen bestimmter psychischer Störungen regelt. Das Gericht muss bei Anwendung des § 20 StGB sorgfältig prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Schuldunfähigkeit vorliegen und darf nicht vorschnell auf den Zweifelssatz zurückgreifen.

Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung

Der BGH kritisierte in seinem Urteil, dass das Landgericht Hamburg seine Überzeugung von der Schuldunfähigkeit des Angeklagten nicht ausreichend begründet hatte. Insbesondere bemängelte der BGH, dass das Landgericht sich zu sehr auf die Aussagen des Sachverständigen stützte und keine eigenständige Bewertung der Schuldfähigkeit vornahm:

Das Landgericht hat zudem vorschnell den Zweifelsgrundsatz auf die Frage des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale des § 20 StGB angewandt, indem es sich der Annahme des Sachverständigen angeschlossen hat, eine Aufhebung der Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht ausschließen zu können. Die Einschätzung des Sachverständigen, dass er einen bestimmten Sachverhalt nicht ausschließen könne, oder für möglich halte, enthebt das Tatgericht aber nicht von der eigenständigen Prüfung, welche Gründe für und gegen das Vorliegen einer rechtlich relevanten Beeinträchtigung des Angeklagten zur Tatzeit sprechen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. November 2022 – 5 StR 347/22, NJW 2023, 931, 932 f. mwN).

Erst wenn dem Tatgericht im Anschluss daran nicht
behebbare Zweifel verbleiben, die sich auf Art und Grad des psychischen Ausnahmezustands beziehen, ist die Anwendung des Zweifelssatzes gerechtfertigt (vgl. BGH aaO; Beschluss vom 25. Juli 2006 – 4 StR 141/06, NStZ-RR 2006, 335 f.). Das vom Landgericht angeführte Fehlen einer rationalen Erklärung für
die Tat und die nicht erkennbare Motivation des Angeklagten lässt für sich genommen noch keine Schlüsse auf eine Störung im Schweregrad eines Eingangsmerkmals zu.

Es genügt nicht, dass der Sachverständige äußert, eine Schuldunfähigkeit sei „nicht auszuschließen“. Das Gericht muss vielmehr eine umfassende Würdigung aller Beweismittel vornehmen und klar darlegen, warum Zweifel an der Schuldfähigkeit bestehen und ob diese Zweifel nicht ausgeräumt werden können.

Prüfung der Voraussetzungen des § 20 StGB

Für die Anwendung des § 20 StGB ist entscheidend, dass ein „Eingangsmerkmal“ vorliegt, wie z.B. eine krankhafte seelische Störung oder eine schwere andere seelische Abartigkeit, die zur Aufhebung der Steuerungsfähigkeit führt. Im vorliegenden Fall hatte das Landgericht eine paranoide Situationsverkennung aufgrund einer Mischintoxikation angenommen. Der BGH bemängelte jedoch, dass das Landgericht diese Annahme nicht ausreichend belegt hatte und die Aussagen des Sachverständigen nicht kritisch hinterfragte. Es sei nicht nachvollziehbar dargelegt worden, warum der Angeklagte sich an bestimmte Details erinnern konnte, während er angeblich unter einer fast vollständigen Erinnerungslücke litt.

Fazit

Das Urteil des BGH vom 31. Januar 2024 verdeutlicht die hohen Anforderungen an die Anwendung des Zweifelssatzes bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit nach § 20 StGB. Gerichte müssen eine eigenständige und umfassende Prüfung vornehmen und dürfen sich nicht allein auf die Aussagen von Sachverständigen stützen. Der Zweifelssatz darf erst dann angewendet werden, wenn nach sorgfältiger Würdigung aller Beweismittel unüberwindbare Zweifel bestehen bleiben. Diese Entscheidung stärkt die Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung und trägt zur Rechtssicherheit bei.

Für die Praxis bedeutet dieses Urteil, dass Verteidiger und Staatsanwälte gleichermaßen darauf achten müssen, dass Gerichte eine gründliche und nachvollziehbare Prüfung der Schuldfähigkeit vornehmen. Sachverständigengutachten müssen kritisch hinterfragt und ihre Feststellungen detailliert begründet werden. Dies ist insbesondere in Fällen von Bedeutung, in denen eine mögliche Schuldunfähigkeit aufgrund von Alkohol- oder Drogenkonsum im Raum steht.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
Benutzerbild von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften. Dabei bin ich fortgebildet in Krisenkommunikation und Compliance.

Erreichbarkeit: Per Mail, Rückruf, Threema oder Whatsapp.

Unsere Kanzlei ist spezialisiert auf Starke Strafverteidigung, seriöses Wirtschaftsstrafrecht und anspruchsvolles IT-Recht + Kunst & Medien - ergänzt um Arbeitsrecht.