Vergewaltigung: Die Bedeutung des Ausnutzens eines Zustands zur Willensäußerung

In einem aktuellen Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 3. April 2024 (Az.: 6 StR 5/24) wurde die Verurteilung eines Angeklagten wegen teilweise aufgehoben und zur erneuten Verhandlung an das Landgericht zurückverwiesen. Der BGH stellte klar, unter welchen Bedingungen das Ausnutzen eines Zustands, in dem das Opfer keinen entgegenstehenden Willen bilden kann, strafbar ist. Dieser Beitrag analysiert die Entscheidung und deren Implikationen für die Praxis.

Sachverhalt

Der Angeklagte und die Nebenklägerin, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung litt, trafen sich in deren Wohnung. Obwohl die Nebenklägerin keine primären sexuellen Absichten hatte, ließ sie sich auf sexuelle Handlungen ein, da sie befürchtete, den Angeklagten ansonsten zu verlieren. Während des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs fiel die Nebenklägerin in einen dissoziativen Zustand, konnte also keinen Willen bezüglich des sexuellen Geschehens bilden.

Der Angeklagte erkannte diesen Zustand und unterbrach den Geschlechtsverkehr. Nachdem die Nebenklägerin wieder zu sich gekommen war, verfiel sie erneut in einen dissoziativen Zustand, den der Angeklagte wiederum bemerkte, aber den Geschlechtsverkehr fortsetzte.

Rechtliche Analyse

Ausnutzen des Zustands zur Willensäußerung

Der BGH hob die Verurteilung des Angeklagten wegen Vergewaltigung auf, da nicht rechtsfehlerfrei festgestellt wurde, dass der Angeklagte den Zustand der Nebenklägerin ausgenutzt hatte. Der § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB setzt voraus, dass der Täter den Zustand des Opfers ausnutzt, in dem es keinen entgegenstehenden Willen bilden kann. Dies ist der Fall, wenn die sexuelle Handlung gerade erst aufgrund der besonderen Situation des Opfers gelingt oder zumindest begünstigt wird.

Anforderungen an die Feststellungen des Landgerichts

Das Landgericht Nürnberg-Fürth hatte festgestellt, dass der Angeklagte wusste, dass die Nebenklägerin während ihres dissoziativen Zustands keinen Willen bilden konnte. Allerdings fehlten detaillierte Feststellungen darüber, ob es zwischen den beiden dissoziativen Zuständen der Nebenklägerin erneut zu einvernehmlichen sexuellen Handlungen kam. Diese Feststellungen sind entscheidend, da der Angeklagte den Zustand der Nebenklägerin nur dann ausgenutzt hätte, wenn die sexuelle Handlung erst durch diesen Zustand ermöglicht worden wäre.

Bedeutung der Gesetzesreform

Der Reformgesetzgeber wollte die Strafbarkeit in Fällen erweitern, in denen der Täter sich ohne Einsatz von Nötigungsmitteln über einen erkennbaren entgegenstehenden Willen des Opfers hinwegsetzt. Bei § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB geht es jedoch um die fehlende Möglichkeit des Opfers zur Willensbildung, weshalb ein erkennbarer entgegenstehender Wille in dieser Konstellation keine Rolle spielt.

Fazit

Die Entscheidung des BGH verdeutlicht die hohen Anforderungen an die Feststellungen und Beweiswürdigung bei der Anwendung von § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB. Es reicht nicht aus, dass das Opfer keinen Willen bilden kann; der Täter muss diesen Zustand ausnutzen, um die sexuelle Handlung zu ermöglichen oder zu begünstigen. Gerichte müssen daher sorgfältig prüfen und detailliert darlegen, ob und wie der Zustand des Opfers die Handlung des Täters beeinflusst hat.

Für die Praxis bedeutet diese Entscheidung, dass Gerichte und Strafverfolgungsbehörden noch genauer die Umstände prüfen müssen, unter denen sexuelle Handlungen vorgenommen wurden. Die Feststellungen müssen klar und detailliert sein, um zu zeigen, ob der Täter den Zustand des Opfers tatsächlich ausgenutzt hat. Dies erfordert eine umfassende Beweisaufnahme und sorgfältige Würdigung aller Umstände des Falles.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften. Dabei bin ich fortgebildet in Krisenkommunikation und Compliance.

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