Das BayObLG (202 StRR 29/23) konnte sich zu der Unsitte äußern, dass Gerichte gerne versuchen, sich Beweisprogramm zu ersparen, indem man kurzerhand einen von einem Ermittler geschriebenen Bericht verliest.
Zunehmend verkennen selbst erfahrene Richter, dass hiermit regelmäßig kein Beweis mit Blick auf die Schuld zu führen ist, das BayObLG fasst hierzu zusammen:
Allerdings leitet die Berufungskammer die entsprechenden Indizien ausschließlich aus der Verlesung eines polizeilichen Ermittlungsberichts her, ohne dass die Berufungskammer sich von deren Richtigkeit überzeugt hat. Es wird aufgrund der Urteilsgründe bereits nicht ersichtlich, wie die Ermittlungsbeamten zu diesen Ergebnissen gelangt sind, ob sie etwa auf der Befragung von Zeugen oder auf sonstigen Ermittlungshandlungen beruhen, sodass dem Revisionsgericht insgesamt die Nachprüfung verwehrt bleibt, ob die Beweiswürdigung, die nicht etwa der Ermittlungsbehörde, sondern dem Tatgericht obliegt, auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht (…=)
Ungeachtet dessen konnten der oder die Beamten, die den in der Hauptverhandlung verlesenen Ermittlungsbericht gefertigt haben, ohnehin nur Zeugen vom Hörensagen sein, weil auszuschließen ist, dass sie die von der Berufungskammer zugrunde gelegten Indizien aufgrund eigener Wahrnehmung festgestellt haben, es vielmehr naheliegt, dass die Erkenntnisse aufgrund der Befragung von Beweispersonen erlangt wurden. Zwar verbietet die Strafprozessordnung nicht von vornherein die Verwertung derartiger Angaben. Allerdings kann nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung eine Feststellung nur dann auf solche Angaben gestützt werden, wenn sie durch andere gewichtige Gesichtspunkte bestätigt werden
BayObLG, 202 StRR 29/23
Wie gravierend die Problematik in diesem Bereich ist, zeigt eine aktuelle Besprechung der Entscheidung in der NZWiSt, wo Folgendes dazu ausgeführt wird:
Mit Blick auf den in Wirtschaftsstrafverfahren besonders bedeutsamen Urkundenbeweis sollte die Entscheidung des BayObLG deshalb nicht als Beleg für einen generell eingeschränkten Beweiswert polizeilicher Ermittlungsberichte herangezogen werden, sofern darin Beweisanzeichen angeführt werden, an deren Richtigkeit keine begründeten Zweifel bestehen und die das Tatgericht seiner Überzeugungsbildung daher auch ohne nochmalige Überprüfung zugrundelegen kann.
Schmidt in NZWiSt 2023, 459
Das befremdet aus einem einfachen Grund: Ein Ermittlungsbericht ist natürlich eine Urkunde im Sinne der §§249ff. StPO; allerdings kann ein Ermittlungsbericht nur dokumentieren, was der Ermittlungsbeamte wahrgenommen oder gedacht hat.
Beispiel: Wenn – wie so oft – in einem Ermittlungsbericht Zusammenfassungen von TKÜ auftauchen, sind die TKÜ-Auswertungen das originäre Beweismittel und die als Urkunde verwertbare Zusammenfassung eines Ermittlers kann allenfalls Beweis dahin führen, dass dieser Ermittler glaubt, so die Auswertungen (richtig) zusammenzufassen. Damit ist es gleichwohl aber ungeeignet, Beweis zu führen hinsichtlich des tatsächlichen Inhalts der TKÜ.
Was der Kommentator in der NZWiSt schreibt, ist dann genau das Problem, das wir derzeit in deutschen Gerichtssälen haben:
„…sofern darin Beweisanzeichen angeführt werden, an deren Richtigkeit keine begründeten Zweifel bestehen…“
Wer entscheidet denn, ob keine begründeten Zweifel vorliegen: das Gericht. Das Gericht nimmt also ein Blatt Papier, auf dem ein Ermittler seine Ideen zusammenfasst, stellt für sich fest, dass es keine Zweifel an der Richtigkeit gibt (während die Verteidigung mangels Beweismittel nichts hinterfragen kann) und fühlt sich damit auch noch wohl, so die leidvolle Praxis. Und wenn man dann mit Beweisanträgen kommt, wird man noch der Prozessverschleppung bezichtigt.
Die Entscheidung des BayObLG wird vielen Richtern schmerzhaft vor Augen führen, dass §261 StPO gerade nicht bedeutet, dass man sich seinen Sachverhalt zusammenbastelt, sondern zu einer Überzeugungsbildung auch immer nachprüfbare Beweise gehören. Und mit EGMR und EUGH gilt längst: Was die Verteidigung nicht prüfen kann, das ist kein Beweismittel im Sinne eines modernen Strafprozesses. Dazu gehören auf jeden Fall die substanzlosen Ergüsse in Ermittlungsberichten, die gerade handfester Beweise brauchen und die jedes Gericht schon von sich aus zu hinterfragen hat. Hierzulande wird es noch dauern, bis sich diese Erkenntnis durchsetzt.
Hinweis: Soweit in der Besprechung moniert wird, das BayObLG würde den revisionsrechtlichen Prüfungsrahmen überschreiten, verkennt dies die prozessualen Umstände. Zum einen bewegt sich das BayObLG auf gefestigtem Boden der Rechtsprechung des BGH, der hier ebenfalls immer großzügiger wird (besonders drastisch zu sehen in BGH 5 StR 344/21 und 3 StR 11/22 – wo der BGH bei DNA-Analysen gleich mal ganze Alternativhypothesen aufstellt).
Zugleich wird aber auch übersehen, dass im Fall der Verurteilung ohne hinreichende Feststellungen – die hier nicht gegeben waren – gerade keine Verfahrensrüge angezeigt ist. Wer naheliegende Beweismittel nicht erhebt als Richter, dem mangelt es an den notwendigen Feststellungen, was die Prüfung der Beweiswürdigung im Rahmen der (allgemeinen) Sachrüge eröffnet.
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