Tatkonkurrenz und Anklagepräzision bei § 266a StGB

Mit Beschluss vom 21. Januar 2025 (Az. 1 StR 456/24) hat der in einer scheinbar verfahrensrechtlichen Randfrage ein dogmatisch bedeutsames Signal für den Umgang mit § 266a StGB gesetzt. Im Zentrum steht die Frage, wie präzise eine sein muss, wenn es um die wiederholte Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen geht – und welche Konsequenzen daraus für die Abgrenzung einzelner Taten im Sinne von § 264 folgen. Der Fall zeigt exemplarisch, dass das wirtschaftsstrafrechtliche Handling des § 266a StGB mit einem hohen Maß an rechtlicher Präzision verbunden ist – und dass diese Präzision nicht nur materiellrechtlich, sondern auch prozessual strikt eingefordert wird.

Der Fall: Eine Anklage, ein Monat zu viel – und die Folge

Das Landgericht Stuttgart hatte den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 48 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt. Zusätzlich wurde die des Wertes von Taterträgen in erheblicher Höhe angeordnet. Die Revision des Angeklagten führte zur des Verfahrens in einem Fall, weil die Anklage einen konkreten Beitragsmonat – April 2021 – nicht umfasst hatte. Der Bundesgerichtshof stellte klar: Bei Taten nach § 266a StGB sind sämtliche betroffenen Beitragszeiträume im Anklagesatz exakt zu benennen. Fehlt ein Monat, so liegt insoweit keine wirksam erhobene Anklage vor, auch nicht bei einem vermeintlich in der erteilten Hinweis.

Diese formale Präzision hat einen materiellrechtlichen Hintergrund: Denn jede Pflichtverletzung – sei es durch unterlassene Meldung oder durch fehlende Zahlung – stellt für jeden Monat eine selbständige Tat dar. Anders als bei vielen anderen Dauerdelikten oder fortgesetzten Begehungsweisen unterliegt § 266a StGB einer konsequenten Periodisierung entlang der Beitragsmonate und der Arbeitgeberfunktion. Dies entspricht der Systematik, wie sie auch bei der nach § 370 AO anerkannt ist. Die Tat wird damit nicht durch einen übergreifenden Sachverhalt definiert, sondern durch die konkrete Beitragsverpflichtung im jeweiligen Monat.

Die rechtliche Struktur des § 266a StGB

§ 266a StGB dient dem Schutz des kollektiven Sozialversicherungssystems. Der Arbeitgeber ist zur rechtzeitigen und vollständigen Abführung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung verpflichtet. Diese Pflicht ist kalendermonatlich ausgestaltet – und jede Verletzung stellt ein vollendetes Delikt dar. Auch die unterlassene oder unvollständige Meldung fällt hierunter, selbst wenn keine konkrete Zahlungspflicht ausgelöst wurde.

Genau diese Monatlichkeit führt zu der prozessualen Konsequenz, dass die Anklage – um wirksam zu sein – jeden einzelnen Tatzeitraum, jedes betroffene Unternehmen und jede Handlung (ob Meldung oder Zahlung) genau benennen muss. Der Bundesgerichtshof bekräftigt, dass diese Präzision keine bloße Förmelei ist, sondern aus dem Tatbegriff des § 264 StPO folgt. Eine nachträgliche Erweiterung des Anklageumfangs durch Hinweis oder richterliche Auslegung ist unzulässig, wenn der notwendige Tatsachenkern fehlt. Im Fall war der April 2021 nicht Bestandteil der zugelassenen Anklage – weshalb das Verfahren insoweit eingestellt wurde.

Strafzumessung und Einziehung bleiben überwiegend unberührt

Obwohl der BGH den Schuldspruch im Umfang eines Falls korrigierte, hielt er die Gesamtfreiheitsstrafe für aufrechterhaltenswert. Die verbleibenden 47 Einzeltaten rechtfertigten aus Sicht des Senats weiterhin die ausgesprochene Strafe. Gleichwohl musste die Einziehungsentscheidung angepasst werden: Der durch den April 2021 entfallene Ersparnisbetrag von 9.877,06 Euro durfte nicht eingezogen werden, da die entsprechende Tat nicht Gegenstand des rechtskräftigen Verfahrens war.

Die Entscheidung zeigt auch in dieser Hinsicht, wie eng materielles Strafrecht und strafprozessuale Präzision bei § 266a StGB miteinander verzahnt sind. Wo die Grundlage für eine Verurteilung fehlt, entfällt auch jede Möglichkeit zur Vermögensabschöpfung.


Schlussbetrachtung

In der Kernaussage unterstreicht der Beschluss des Bundesgerichtshofs, dass § 266a StGB kein „Sammeldelikt“ ist, sondern aus strukturierter Rechtsdogmatik besteht: Jeder Beitragsmonat bildet eine eigenständige Tat – und jede Anklage muss diesen Umstand berücksichtigen. Die damit verbundenen Anforderungen an den Anklagesatz sind nicht bloß verfahrensrechtliche Spitzfindigkeiten, sondern Ausdruck materiellrechtlicher Klarheit. Wer als Strafgericht auf dieser Grundlage urteilt, muss im Vorfeld prüfen, ob alle Taten tatsächlich angeklagt wurden – andernfalls droht nicht nur die Korrektur durch das Revisionsgericht, sondern auch der Verlust an Legitimität in wirtschaftsstrafrechtlich sensiblen Verfahren. Der Fall erinnert daran, dass rechtliche Präzision nicht Selbstzweck ist, sondern Teil des Schutzsystems einer funktionierenden und gerechten Strafrechtspflege.

Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht bei Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf
Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht mit Schwerpunkt Cybersecurity & Softwarerecht. Ich bin zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht und zur EU-Staatsanwaltschaft.Als Softwareentwickler bin ich in Python zertifiziert und habe IT-Handbücher geschrieben.

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