In seinem Beschluss vom 19. Februar 2025 (Az. AK 13/25) hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs eine wegweisende Klarstellung zur Berechnung der Sechsmonatsfrist für die Untersuchungshaft gemäß § 121 StPO vorgenommen. Im Zentrum der Entscheidung steht die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die nachträgliche Erweiterung eines Haftbefehls auf neue Taten eine neue Frist in Gang setzen kann – oder ob es sich (auch im weiteren Sinne) um „dieselbe Tat“ im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO handelt, mit der Folge, dass die Haftprüfung früher zu erfolgen hätte.
Der Fall ist nicht nur prozessrechtlich anspruchsvoll, sondern auch materiellrechtlich von erheblicher Tragweite. Der Beschuldigte steht im Verdacht, als Mitglied einer eigenständig operierenden Unterstützergruppe des sogenannten Islamischen Staates (IS) tätig gewesen zu sein, die in verschiedenen europäischen Ländern Finanzmittel sammelte und über konspirative Wege – insbesondere mit Hilfe von Kryptowährungen und Mittelsmännern – in Kriegsgebiete transferierte. Er soll zwischen 2022 und 2024 über hunderttausend Euro für den IS gesammelt und verteilt haben.
Die Grundfrage: Wann beginnt die Sechsmonatsfrist von § 121 StPO (neu)?
Die Untersuchungshaft darf gemäß § 121 Abs. 1 StPO nicht über sechs Monate hinaus fortdauern, wenn nicht besondere Umstände – insbesondere der besondere Umfang oder die besondere Schwierigkeit der Ermittlungen – dies rechtfertigen. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, ab dem sich der Verdacht in einem Maß verdichtet hat, dass ein Haftbefehl hätte erlassen werden können. Dabei weicht der Tatbegriff des § 121 StPO bewusst vom prozessualen Tatbegriff des § 264 Abs. 1 StPO ab: Er ist weiter gefasst und bezieht sich auf alle Taten, die – auf Grundlage eines dringenden Tatverdachts – schon hätten Gegenstand des Haftbefehls sein können.
Der BGH hebt in seinem Beschluss hervor, dass eine neue Sechsmonatsfrist nur dann beginnt, wenn der Haftbefehl auf Taten gestützt wird, die bei Erlass des ursprünglichen Haftbefehls noch nicht bekannt waren – und die für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls tragen. Damit will der Senat strategische „Reservehaltungen“ der Strafverfolgungsbehörden unterbinden, bei denen bekannte Tatvorwürfe bewusst zurückgehalten werden, um später eine neue Frist eröffnen zu können.
Im entschiedenen Fall war der ursprüngliche Haftbefehl vom 24. Juli 2024 auf elf Straftaten gestützt, die im Zusammenhang mit der Unterstützung des IS standen. Erst im Oktober 2024 wurden – nach umfangreicher Auswertung von Chatprotokollen – 19 weitere Taten bekannt, die den Erlass eines neuen Haftbefehls am 24. Oktober 2024 rechtfertigten. Diese neuen Vorwürfe beruhten nicht auf bereits bekannten, bloß anders gewichteten Sachverhalten, sondern auf eigenständigen Erkenntnissen aus forensischen Auswertungen.
Konkrete Anwendung: Neue Frist ist eröffnet
Der BGH bejaht für diesen Fall ausdrücklich, dass eine neue Sechsmonatsfrist mit dem neuen Haftbefehl in Gang gesetzt wurde. Dabei legt der Senat den Beginn der Frist auf den Tag nach dem Zugang der entscheidenden Ermittlungsunterlagen an die Bundesanwaltschaft – konkret: den 19. Oktober 2024. Dieser Zeitpunkt sei der frühestmögliche, an dem ein erweiterter Haftbefehl mit hinreichendem dringenden Tatverdacht hätte ergehen können. Die bislang inhaftierte Zeit wird somit nicht auf die neue Frist angerechnet. Eine Haftprüfung nach § 121 StPO war zum Entscheidungszeitpunkt im Februar 2025 folglich noch nicht veranlasst.
Die rechtliche Begründung stützt sich auf einen strukturierten Prüfungsmaßstab: Erstens muss es sich um neue, rechtlich selbstständige Taten handeln; zweitens müssen diese zum Zeitpunkt des ersten Haftbefehls noch nicht bekannt gewesen sein; drittens müssen sie für sich genommen einen Haftbefehl rechtfertigen können; und viertens darf keine rechtsmissbräuchliche Reservehaltung vorliegen. Diese Anforderungen erfüllt der Fall, so der BGH, in vollem Umfang.
Dogmatische und prozessökonomische Tragweite
Die Entscheidung hat über den konkreten Fall hinaus erhebliche Bedeutung für die Praxis: Sie schützt einerseits den Beschuldigten vor taktischen Verzögerungen seitens der Ermittlungsbehörden, erlaubt andererseits aber eine faire Berücksichtigung neuer, substanzieller Tatvorwürfe, ohne dass die Ermittler befürchten müssten, in eine verfahrenswidrige Fristversäumnis zu geraten. Die Entscheidung trägt somit auch zur Planungssicherheit in Großverfahren mit transnationalem oder terroristischem Bezug bei.
Zugleich betont der BGH das Beschleunigungsgebot bei Haftsachen. Auch wenn eine neue Frist eröffnet wurde, müsse die Gesamtdauer der Inhaftierung stets in den Blick genommen werden. Eine schematische Anwendung sei ebenso unzulässig wie eine formale Missachtung der Schutzintention des § 121 StPO.
Die Entscheidung steht beispielhaft für die Notwendigkeit, materiellrechtliche Komplexität mit verfahrensrechtlicher Präzision zu verbinden – insbesondere in einem Umfeld, das durch internationale Verflechtungen, digitale Kommunikation und transnationale Bedrohungslagen geprägt ist.
Schlussbetrachtung
In der Kernaussage bestätigt der Bundesgerichtshof die Möglichkeit, bei Auftreten neuer, zuvor unbekannter Tatvorwürfe eine eigenständige Sechsmonatsfrist nach § 121 StPO in Gang zu setzen – vorausgesetzt, die neuen Taten hätten zum damaligen Zeitpunkt nicht in den Haftbefehl aufgenommen werden können und rechtfertigen ihn eigenständig. Damit schafft der Senat Klarheit in einem für die Praxis hochrelevanten Bereich zwischen prozessualer Fairness, effektiver Strafverfolgung und rechtsstaatlichem Freiheitsanspruch.
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