Die einstweilige Verfügung und der Preis vorläufigen Rechtsschutzes: Mit seinem Urteil vom 13. März 2025 (Az. IX ZR 201/23) hat der Bundesgerichtshof eine zentral wichtige Entscheidung zur haftungsrechtlichen Risikoverteilung bei einstweiligen Verfügungen im Patentrecht getroffen. Im Fokus steht § 945 ZPO, der den Ersatz von Schäden regelt, die einem Schuldner durch eine unberechtigte einstweilige Verfügung entstehen.
Dabei präzisiert der BGH insbesondere die Voraussetzungen der Vollziehung bei Sicherheitsleistungen, grenzt die Reichweite bereicherungsrechtlicher Herausgabeansprüche ab und befasst sich mit der Frage der Drittschadensliquidation bei konzerninternen Umstrukturierungen. Die Entscheidung ist damit ein Meilenstein für das Verhältnis von vorläufigem Rechtsschutz und materiell-rechtlicher Verantwortlichkeit – nicht nur im Patentrecht, sondern auch im Verfahrensrecht.
Hintergrund: Einstweilige Verfügung gegen Arzneimittelvertrieb
Die Beklagte, ein global tätiger Arzneimittelkonzern, hatte 2019 eine einstweilige Verfügung gegen die Klägerin erwirkt, mit der dieser der Vertrieb eines Medikaments gegen Multiple Sklerose untersagt wurde. Grundlage war ein europäisches Patent, das später vom Europäischen Patentamt widerrufen wurde. Auf der Basis einer Bankbürgschaft wurde die Verfügung vollzogen, woraufhin die Klägerin den Vertrieb einstellte. Die Beklagte gab die Verfügung nach Widerruf des Patents zurück. In der Zwischenzeit war der Geschäftsbetrieb der Klägerin konzernintern an ein Schwesterunternehmen verpachtet worden.
Die Klägerin verlangte Schadensersatz nach § 945 ZPO sowie Herausgabe des von der Beklagten in Folge der Marktabschottung erzielten Gewinns – teils auch im Wege der Drittschadensliquidation für die konzerninterne Vertriebsgesellschaft. Die Vorinstanzen gaben der Klage teilweise statt. Der BGH hebt die Entscheidungen nun in wesentlichen Punkten auf.
Die Haftung aus § 945 ZPO: Kein Verschulden erforderlich, aber strenge Anforderungen an die Vollziehung
Der BGH bekräftigt, dass § 945 ZPO eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung des Gläubigers einer einstweiligen Verfügung begründet. Wird die Verfügung später aufgehoben oder – wie hier – das Verfügungspatent widerrufen, haftet der Gläubiger für sämtliche Schäden, die dem Schuldner aus der Vollziehung entstehen. Dabei ist der Begriff der Vollziehung weit zu verstehen: Schon die Zustellung der Verfügung verbunden mit der Androhung von Ordnungsmitteln genügt, um Vollstreckungsdruck auszuüben – ein tatsächlicher Verstoß ist nicht erforderlich.
Interessant ist die Klarstellung zur Sicherheitsleistung: Auch wenn die Bankbürgschaft im Einzelfall unvollständig ist oder nicht alle denkbaren Haftungsrisiken abdeckt, hindert dies den Schadensersatzanspruch nicht. Die Vollziehung bleibt wirksam, wenn der Schuldner von der Bürgschaft Kenntnis hatte und auf deren Grundlage die Maßnahme akzeptierte. Der BGH stellt klar, dass der Schuldner nicht mit einem unklaren Risikobild belastet werden darf und es daher auf eine formalisierte und rechtssichere Kommunikation über die Sicherheit ankommt.
Kein Herausgabeanspruch des „Verfügungsgläubigergewinns“ bei paralleler Geltendmachung entgangenen Gewinns
Ein weiterer zentraler Punkt betrifft den Versuch der Klägerin, über § 812 BGB nicht nur ihren entgangenen Gewinn ersetzt zu bekommen, sondern auch den darüber hinausgehenden Gewinn, den die Beklagte durch die Vollziehung der Verfügung erzielt hatte. Der BGH verneint diesen Anspruch und verweist auf das bewährte System der dreifachen Schadensberechnung: Der Geschädigte muss sich für eine der anerkannten Methoden entscheiden – entgangener Gewinn, angemessene Lizenz oder Verletzergewinn –, kann diese aber nicht vermengen. Eine parallele Geltendmachung über § 812 BGB zur Erweiterung der Schadensbasis sei unzulässig, selbst wenn man den eigenen Schaden mit dem Fremdgewinn „verrechnen“ wolle. Die Entscheidung sichert damit das System der schadensrechtlichen Begrenzung gegen kreative Erweiterungsversuche ab.
Drittschadensliquidation: Kein Zugriff auf Schäden konzerninterner Dritter
Besonders praxisrelevant ist die Ablehnung der sogenannten Drittschadensliquidation zugunsten konzernverbundener Unternehmen. Die Klägerin hatte argumentiert, sie könne auch den Gewinnentgang ihres Schwesterunternehmens geltend machen, das nach der konzerninternen Umstrukturierung den Vertrieb übernommen hatte. Der BGH weist dies klar zurück: Eine solche Schadensverlagerung sei nicht zufällig, sondern Folge einer bewussten Gestaltung. Eine Ausweitung der verschuldensunabhängigen Haftung durch konzerninterne Vertragsgestaltungen sei weder gerechtfertigt noch mit dem Haftungssystem des § 945 ZPO vereinbar. Die Norm bezweckt einen Ausgleich für tatsächlich Betroffene – nicht aber eine Erweiterung der Anspruchsberechtigung durch gestalterische Maßnahmen des Schuldners.
Prozessuale Klarheit bei Beweisanforderungen und Gutachten
In verfahrensrechtlicher Hinsicht moniert der BGH auch die Annahme des Berufungsgerichts, das sich bei der Marktanalyse und Schadenshöhe zu stark auf einseitige Parteigutachten gestützt hatte. Wenn konkurrierende Gutachten vorliegen, muss ein unabhängiges Sachverständigengutachten eingeholt werden, sofern das Gericht nicht über eigene Sachkunde verfügt. Auch die Verwendung einer eidesstattlichen Versicherung zur Bezifferung des Schadens wurde gerügt: Diese reiche als Beweismittel nicht aus, wenn der Gegner substantiiert bestreitet.
Resümee
Die Essenz dieser Entscheidung liegt in der klaren Auslegung und Abgrenzung des § 945 ZPO. Der BGH bekräftigt, dass einstweiliger Rechtsschutz kein risikofreies Instrument ist: Wer zu Unrecht eine Verfügung vollzieht, haftet umfassend – ohne Rückgriff auf Bereicherungsrecht oder Konzerntricks. Die Entscheidung sichert die Grenzen des vorläufigen Rechtsschutzes und wahrt die systematische Trennung zwischen Schadensersatz und Gewinnabschöpfung. Sie ist damit nicht nur ein Lehrstück für das Patentrecht, sondern auch für die verfahrensrechtliche Integrität und das rechtsstaatliche Gleichgewicht im einstweiligen Verfahren.