Mit Urteil vom heutigen Tag hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 1619/17) entschieden, dass mehrere Vorschriften des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (BayVSG) mit dem Grundgesetz unvereinbar sind, weil die dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz darin eingeräumten Befugnisse teilweise gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) in seiner Ausprägung als Schutz der informationellen Selbstbestimmung, teilweise in seiner Ausprägung als Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, teilweise gegen das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) und teilweise gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) verstoßen:
- Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVSG („Wohnraumüberwachung“) ist verfassungswidrig, weil die Befugnis zwar im Grunde hinreichende Eingriffsvoraussetzungen bestimmt („dringende Gefahr“), jedoch nicht auf das Ziel der „Abwehr“ einer Gefahr ausgerichtet ist und weil die erforderliche Regelung zur Subsidiarität gegenüber Gefahrenabwehrmaßnahmen der Gefahrenabwehrbehörden fehlt. Außerdem sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Kernbereichsschutz bei Wohnraumüberwachungen weder für die Erhebungsebene noch für die Auswertungsebene vollständig erfüllt.
- Art. 10 Abs. 1 BayVSG („Online-Durchsuchung“) ist verfassungswidrig, weil die Befugnis durch den Verweis auf Art. 9 Abs. 1 BayVSG dessen Mängel weitgehend teilt. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Kernbereichsschutz sind zwar für die Erhebungsebene erfüllt, nicht aber für die Auswertungsebene.
- Art. 12 Abs. 1 BayVSG („Ortung von Mobilfunkendgeräten“) ist verfassungswidrig, weil die Befugnis so weit gefasst ist, dass sie auch eine langandauernde Überwachung der Bewegungen der Betroffenen erlaubt („Bewegungsprofil“), ohne den dafür geltenden verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen. Die Regelung sieht insoweit keine hinreichend bestimmten Eingriffsvoraussetzungen vor, und es fehlt die erforderliche unabhängige Vorabkontrolle.
- Art. 15 Abs. 3 BayVSG(„Auskunft über Verkehrsdaten aus Vorratsdatenspeicherung“) verstößt gegen das Gebot der Normenklarheit.
- Art. 18 Abs. 1 BayVSG („Verdeckte Mitarbeiter“) und Art. 19 Abs. 1 BayVSG („Vertrauensleute“) sind verfassungswidrig, weil keine hinreichenden Eingriffsschwellen geregelt sind und eine Bestimmung fehlt, die den Kreis zulässiger Überwachungsadressaten begrenzend regelt, sofern der Einsatz von Verdeckten Mitarbeitern oder Vertrauensleuten gezielt gegen bestimmte Personen gerichtet ist. Außerdem fehlt es an der erforderlichen unabhängigen Vorabkontrolle.
- Art. 19a Abs. 1 BayVSG („Observation außerhalb der Wohnung“) ist verfassungswidrig, weil die Befugnis für den Fall besonders eingriffsintensiver Observationen nicht hinreichend bestimmt auf Bestrebungen oder Tätigkeiten von besonders gesteigerter Überwachungsbedürftigkeit beschränkt ist und es auch hier an einer unabhängigen Vorabkontrolle fehlt.
- Soweit die Übermittlungsbestimmungen des Art. 25 BayVSG („Informationsübermittlung durch das Landesamt“) zulässig angegriffen sind, genügen sie nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Zum Teil zielt die Übermittlung nicht auf den Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter, zum Teil sind keine hinreichenden Übermittlungsschwellen vorgesehen. Die Weiterverarbeitungs- und Übermittlungsbefugnis des Art. 8b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayVSG („Daten aus Wohnraumüberwachung und Online-Durchsuchung“) ist wegen einer unzulässigen dynamischen Verweisung auf Bundesrecht verfassungswidrig. Das gilt auch für Art. 8b Abs. 3 BayVSG („Daten aus Auskunftsersuchen“); außerdem verstoßen dessen vielgliedrige Verweisungsketten gegen das Gebot der Normenklarheit.
Art. 15 Abs. 3 BayVSG ist nichtig. Im Übrigen sind die beanstandeten Vorschriften lediglich mit der Verfassung unvereinbar und gelten vorübergehend – mit Blick auf die betroffenen Grundrechte jedoch nach einschränkenden Maßgaben – bis zum Ablauf des 31. Juli 2023 fort.
Quelle: Pressemitteilung des Gerichts
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