Für Geschwindigkeitsüberschreitungen gilt, dass eine erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung ein wesentliches Indiz für (bedingt) vorsätzliches Handeln darstellen kann. Das Bewusstsein, die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten zu haben, setzt jedoch grundsätzlich voraus, dass der Betroffene die Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung wahrgenommen hat. Kennt der Täter hingegen die im konkreten Fall zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht und geht er von einer unbeschränkten Geschwindigkeit oder einer höheren zulässigen Geschwindigkeit aus, die die Differenz zwischen der festgestellten und der angenommenen Höchstgeschwindigkeit als gering erscheinen lässt, kommt ggf. nur fahrlässiges Handeln in Betracht.
Das OLG Köln konnte sich nunmehr dazu äußern, was die Gerichte feststellen müssen, wenn sie aufgrund der Örtlichkeit (Baustelle) auf bedingten Vorsatz schließen wollen – trotz fehlender gesetzlicher Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen kann es nämlich im Einzelfall sein, dass sich aufgrund der ohne Weiteres erkennbaren äußeren Situation die Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung derart aufdrängt, dass das kognitive und voluntative Vorsatzelement zu bejahen ist. Auch dies muss aber vom Gericht hinreichend festgestellt werden:
In diesem Zusammenhang stellt das Tatgericht fest, der Baustellenbereich in Höhe des Autobahnkilometers 86,17 sei „nicht zuletzt durch Fahrbahnmarkierungen zu erkennen“ gewesen. Welche Fahrbahnmarkierungen hier gemeint sind, erschließt sich durch Kenntnisnahme des prozessordnungsgemäß in Bezug genommenen Beschilderungsplans, der – handschriftlich eingetragen – gelbe Fahrbahnmarkierungen beginnend im Kreuz Köln Ost und fortgeführt zwischen diesem und der Anschlussstelle Köln-Merheim ausweist. Dass er einen Baustellenbereich durchfuhr, drängte sich dem Betroffenen bei dieser Sachlage im vorbezeichneten Sinne auf.
Erfahrungsgemäß ist im Baustellenbereich auf Autobahnen die höchstzulässige Geschwindigkeit auf Werte zwischen 40 und 100 km/h beschränkt. Der Betroffene kann danach nur über die Höhe der für ihn geltende Geschwindigkeitsbeschränkung geirrt haben. Ein solcher Irrtum berührte hier aber die Vorsatzzurechnung nicht: Selbst wenn der Betroffene die für ihn geltende Beschilderung nicht wahrgenommen hätte, hätte er (erkanntermaßen) die höchstzulässige Geschwindigkeit immer noch um jedenfalls 61 km/h überschritten (s. auch die Konstellation bei BayObLG NZV 1996, 375: Vorsätzliche Überschreitung der auf Bundesstraßen allgemein geltenden Geschwindigkeitsbeschränkung bei [möglicherweise] fahrlässiger Überschreitung einer durch Z 274 angeordneten, weitergehenden Geschwindigkeitsbeschränkung), was eine so wesentliche Überschreitung der höchstzulässigen Geschwindigkeit bedeutet, dass die Tatrichterin ohne Rechtsfehler von einer vorsätzlichen Geschwindigkeitsübertretung ausgehen durfte. Die Differenz zwischen festgestellter und vermeintlicher Höchstgeschwindigkeit ist dann eben nicht im vorstehend gekennzeichneten Sinne „gering“. Vorsätzliches Handeln lag hier um so näher, als – wie das Amtsgericht mit Recht ausführt – der Betroffene schnell zu seiner nicht mehr weit entfernten Heimatadresse gelangen wollte.
Freilich ist hiermit noch nicht eine bedingt vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung um gerade 101 km/h belegt. Nach dem vorstehend Ausgeführten erscheint es auch – insbesondere je nach genauer Ausgestaltung des Baustellenbereichs – vorstellbar, dass der Betroffene lediglich eine Geschwindigkeitsübertretung von 61 oder 81 km/h in seinen Vorsatz aufgenommen hat. Ein Betroffener mit einem solchen Vorstellungsbild muss nach Auffassung des Senats nicht notwendig auch eine höchstzulässige Geschwindigkeit von 60 km/h und damit eine Geschwindigkeitsüberschreitung von – hier – 101 km/h für möglich halten und billigen. Weil dieser Befund sich auf den Schuldumfang und damit auf die Höhe des Bußgeldes auswirkt, konnte die Rechtsfolgenentscheidung der Tatrichterin, die auf die Höchstbuße gemäß § 24 Abs. 2 StVG erkannt hat, keinen Bestand haben. Da diese selbst eine Abhängigkeit zwischen Bußgeldbemessung und Dauer des Fahrverbots hergestellt hat, verbot sich auch dessen isolierte Aufrechterhaltung.
Weitergehende Feststellungen zum Vorstellungsbild des Betroffenen – durch Widerlegung seiner Einlassung, er habe „das“ Schild übersehen, aber auch auf der Grundlage des genauen seinerzeitigen Ausbauzustands der Messstelle, der jedenfalls eine geringere höchstzulässige Geschwindigkeit als 100 km/h nahegelegt haben mag – erscheinen möglich. Der Senat sieht daher davon ab, in der Sache zu entscheiden (§ 79 Abs. 6 OWiG) und verweist die Sache an das Amtsgericht zurück. Das ist auch deswegen angezeigt, weil die bußgelderhöhende Erwägung, im Zeitpunkt der hiesigen Tat sei der Bußgeldbescheid bezüglich der am 17. Dezember 2021 begangenen Tat bereits erlassen gewesen und habe daher Warnwirkung entfalten können, bislang nicht belegt ist. Angesichts der zeitlichen Verhältnisse (Tatbegehung hier: 15. Januar 2022) versteht sich das auch nicht von selbst.
Oberlandesgericht Köln, 1 ORBs 273/23
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