Das Landgericht (LG) Regensburg hat mit seinem Beschluss vom 05.09.2024 (Az. 8 Qs 30/24) entschieden, dass eine Funkzellenabfrage gemäß § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO auch dann zulässig ist, wenn der Verdacht einer Katalogtat nach § 100g Abs. 2 StPO nicht vorliegt. Es handelt sich dabei um eine Abweichung von der restriktiveren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die strenge Voraussetzungen für solche Abfragen aufgestellt hatte.
Detail zur BGH-Rechtsprechung und Position des LG Regensburg
Der BGH hatte im Januar 2024 in einem vergleichbaren Fall entschieden, dass für eine Funkzellenabfrage der Verdacht einer „besonders schweren Straftat“ im Sinne von § 100g Abs. 2 StPO erforderlich sei. Dabei ging es um die Abgrenzung zwischen Katalogtaten und „gewöhnlichen“ Straftaten, die keine besonders schweren Verbrechen darstellen. Der BGH kam zu dem Schluss, dass eine Funkzellenabfrage bei bloßen Diebstählen, wie z. B. nach §§ 242, 243 StGB, nicht gerechtfertigt sei, da diese nicht in den Katalog des § 100g Abs. 2 StPO fallen. Ich hatte die Entscheidung auch hier bei Beck-Aktuell besprochen.
Das LG Regensburg widerspricht dieser Sichtweise. Es stellt klar, dass eine Funkzellenabfrage nach § 100g Abs. 3 StPO keine Katalogtat nach Abs. 2 voraussetzt. Diese Regelung soll breiter anwendbar sein, um Ermittlungen in unterschiedlichen Straftaten, auch jenseits von Katalogtaten, zu ermöglichen. Das LG Regensburg folgt hierbei einer systematisch anderen Auslegung der StPO, die nicht auf die besonders schweren Delikte beschränkt ist. Es beruft sich dabei auch auf die Entscheidung des LG Hamburg vom 06.06.2024 (Az. 621 Qs 32/24), die eine ähnliche Argumentation verfolgte.
Umgang mit Überwachungsrisiken und Bewegungsprofilen
Ein zentrales Problem bei der Funkzellenabfrage ist die Gefahr, dass dabei Daten von unbeteiligten Personen erfasst werden. Das LG Regensburg geht auf diese Risiken explizit ein und erkennt an, dass bei einer solchen Maßnahme Bewegungsprofile von Personen erstellt werden können, die nicht in den Straftatverdacht geraten sind. Dennoch hält es die Abfrage für gerechtfertigt, da die Erhebung der Daten auf einen konkreten Tatzeitraum und eine bestimmte Örtlichkeit beschränkt sei. Durch diese Beschränkungen werde das Risiko minimiert, dass Bewegungsprofile von Unbeteiligten übermäßig umfangreich oder willkürlich erstellt werden. Zudem verweist das Gericht auf die gesetzlich vorgeschriebene Verhältnismäßigkeitsprüfung, die sicherstellen soll, dass eine solche Maßnahme nur dann ergriffen wird, wenn sie für die Aufklärung der Tat unerlässlich ist.
Die Gefahr, dass solche Abfragen zu einer unverhältnismäßigen Massenüberwachung führen könnten, wird durch diese restriktive Anwendung eingedämmt. Dies sieht das LG Regensburg als hinreichenden Schutz der Rechte unbeteiligter Dritter an.
BGH-Rechtsprechung zur Funkzellenabfrage: Eine engere Interpretation
Zur Erinnerung: Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 10.01.2024 betont, dass Funkzellenabfragen nur dann zulässig sind, wenn sie zur Aufklärung von Katalogtaten nach § 100g Abs. 2 StPO dienen. In dem vom BGH entschiedenen Fall ging es um einen Diebstahl mit Waffen. Die Erhebung der Mobilfunkdaten der in der Nähe des Tatorts befindlichen Personen wurde vom Gericht als rechtswidrig eingestuft, da diese Tat nicht in den Katalog besonders schwerer Straftaten fällt. Der BGH stellte klar, dass eine solche Abfrage, die auch die Standortdaten Unbeteiligter erfasst, nur bei „besonders schweren Straftaten“ gerechtfertigt sei.
Die Argumentation des BGH basiert auf der systematischen Auslegung der Strafprozessordnung: Da die Funkzellenabfrage tief in die Grundrechte der betroffenen Personen eingreift, sei sie nur bei erheblicher Tatverdächtigung zulässig. Dies begründet der BGH auch damit, dass der Schutz der Privatsphäre und der Bewegungsfreiheit der Bürger in den Vordergrund gestellt werden muss. Der BGH führt aus, dass eine allgemeine Erhebung von Verkehrsdaten, die auch Standortinformationen enthält, automatisch auch Bewegungsprofile erstellt, was besonders schützenswert ist.
Der BGH sieht es daher als notwendig an, eine klare Grenze zwischen einfachen Straftaten wie Diebstahl und besonders schwerwiegenden Straftaten zu ziehen, um den Schutz der Betroffenen zu gewährleisten. Diese engere Auslegung führt dazu, dass Ermittlungsbehörden künftig bei Funkzellenabfragen verstärkt prüfen müssen, ob der Tatvorwurf die Schwere einer Katalogtat erreicht, bevor sie diese Maßnahme anordnen können.
Entscheidung des LG Regensburg
Das Landgericht (LG) Regensburg setzt sich in seiner Entscheidung vom 05.09.2024 (Az. 8 Qs 30/24) eingehend mit der restriktiven Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) auseinander, die im Beschluss vom 10.01.2024 dargelegt wurde. Dabei weist das LG Regensburg die zentralen Argumente des BGH zurück und verfolgt eine abweichende rechtliche Bewertung. Das ist dabei nicht die erste Entscheidung dieser Art, vorher hatte sich schon das LG Hamburg entsprechend postiert.
1. Katalogtat vs. Straftat von erheblicher Bedeutung
Der BGH hatte argumentiert, dass eine Funkzellenabfrage gemäß § 100g Abs. 3 StPO nur bei besonders schweren Straftaten zulässig sei, die im Katalog des § 100g Abs. 2 StPO aufgelistet sind. Nach Auffassung des BGH umfasst dies nur gravierende Delikte wie Mord, Hochverrat oder Terrorismus. Der Diebstahl, der im Fall des LG Frankfurt verhandelt wurde, sei nicht ausreichend schwerwiegend, um eine derart intensive Ermittlungsmaßnahme zu rechtfertigen.
Das LG Regensburg widerspricht dieser Auffassung entschieden. Es stellt klar, dass § 100g Abs. 3 StPO explizit keine Katalogtat fordert. Der Gesetzgeber habe bewusst zwischen den Absätzen 2 und 3 unterschieden, um Ermittlungsbehörden auch bei weniger schweren Straftaten die Möglichkeit zu geben, Funkzellenabfragen durchzuführen, sofern die Tat von „erheblicher Bedeutung“ ist. Das Gericht führt aus, dass diese Formulierung eine flexible Handhabung ermöglichen soll, die auch Straftaten wie Einbruchdiebstahl umfasst, wenn die Umstände des Einzelfalls die Maßnahme rechtfertigen. Somit lehnt das LG Regensburg die Einschränkung des BGH auf besonders schwere Straftaten ab und hält an einer differenzierten Auslegung des Gesetzes fest.
2. Systematische Auslegung des Begriffs „Verkehrsdaten“
Der BGH argumentierte in seinem Beschluss, dass Funkzellenabfragen als Erhebung „retrograder Verkehrsdaten“ zu qualifizieren seien, da sie alle in einer Funkzelle angefallenen Daten betreffen, einschließlich Standortdaten. Aus dieser systematischen Erwägung folgerte der BGH, dass die Erhebung von Standortdaten mit der Funkzellenabfrage gleichzusetzen sei, weshalb die strengen Voraussetzungen für die Erhebung retrograder Standortdaten gemäß § 100g Abs. 2 StPO auch auf Funkzellenabfragen anwendbar seien.
Das LG Regensburg widerspricht dieser „systematischen“ Argumentation. Es betont, dass der Gesetzgeber bei § 100g Abs. 3 StPO bewusst auf einen solchen Verweis auf § 100g Abs. 2 verzichtet habe. Die Funkzellenabfrage erhebe zwar auch Standortdaten, jedoch nicht in derselben Dichte und Präzision wie eine dedizierte Standortdatenerhebung. Vielmehr handle es sich um allgemeine Verkehrsdaten, die lediglich im Rahmen der Funkzellenerhebung zufällig auch Standortinformationen enthielten. Das Gericht argumentiert, dass diese Unterscheidung wichtig sei, da es sonst kaum noch möglich wäre, diese Ermittlungsmethode bei weniger schweren Straftaten anzuwenden.
3. Schutz der Grundrechte und Verhältnismäßigkeit
Ein zentrales Argument des BGH ist der Schutz der Grundrechte der Betroffenen. Der BGH hatte betont, dass die Funkzellenabfrage einen tiefen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Personen darstelle, die möglicherweise gar nicht in die Ermittlungen verwickelt sind. Aufgrund der Möglichkeit, Bewegungsprofile zu erstellen, sei eine solche Maßnahme nur bei besonders schwerwiegenden Straftaten gerechtfertigt. Der BGH warnte vor der Gefahr einer unverhältnismäßigen Ausweitung dieser Ermittlungsmaßnahme.
Das LG Regensburg greift diese Bedenken auf, verwirft sie jedoch mit einer differenzierten Verhältnismäßigkeitsprüfung. Das Gericht hält es für ausreichend, dass die Abfrage auf einen konkreten Tatzeitraum und einen begrenzten geografischen Bereich beschränkt ist. Damit werde das Risiko, Bewegungsprofile unbeteiligter Personen zu erstellen, deutlich minimiert. Zudem hebt das LG Regensburg hervor, dass es Aufgabe der Ermittlungsbehörden sei, die Maßnahme nur dann zu beantragen, wenn ein dringendes öffentliches Interesse an der Aufklärung der Straftat bestehe. Dieser flexible Ansatz ermögliche eine angemessene Abwägung der widerstreitenden Interessen – einerseits der Schutz der Persönlichkeitsrechte, andererseits das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung.
4. Differenzierte Betrachtung des Beweisverwertungsverbots
Ein weiterer Punkt, den der BGH betonte, war das Beweisverwertungsverbot für rechtswidrig erlangte Funkzellendaten. Der BGH argumentierte, dass bei einer nicht gerechtfertigten Funkzellenabfrage ein generelles Verwertungsverbot gelten müsse, um den Grundrechtsschutz zu stärken.
Das LG Regensburg zeigt sich hier zurückhaltender. Es vertritt die Auffassung, dass die Entscheidung über die Verwertbarkeit im Einzelfall zu treffen sei. Dies bedeutet, dass nicht automatisch jedes rechtswidrig erlangte Beweismittel ausgeschlossen werden muss, sondern eine Abwägung zwischen den Schweregraden der Rechtsverletzung und dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung stattzufinden habe. Das LG betont, dass es in vielen Fällen unverhältnismäßig wäre, gewonnene Beweise allein aufgrund formaler Fehler der Anordnung auszuschließen, sofern das öffentliche Interesse an der Ahndung schwerer Straftaten überwiegt.
Es ist zu erleben, wie sich Landgerichte offen gegen die Rechtsprechung des BGH stellen – das ist nicht überraschend, denn in der deutschen Justiz herrscht die Auffassung, dass im Zweigel pro Ermittlungserfolg und gegen Beweisverwertungsverbot entschieden wird. Dabei ist es keine Besonderheit, dass Amts- und Landgerichte sich vollkommen überfordert damit zeigen, abstrakte Überwachungsgefahren einzuschätzen. Insbesondere die Besorgnis der Bevölkerung vor Überwachung, verfassungsrechtlich geschützt ist – wie das LG Regensburg eindrücklich zeigt – ein Effekt, der Richtern auf dieser Ebene nicht vermittelbar ist.
Ausblick
Die Entscheidung des LG Regensburg weicht bewusst von der restriktiven Linie des BGH ab und erlaubt Funkzellenabfragen auch bei Straftaten, die nicht den Katalog des § 100g Abs. 2 StPO erfüllen. Insgesamt setzt sich das LG Regensburg dabei sehr intensiv mit den Argumenten des BGH auseinander, lehnt aber eben eine strikte Übertragung der restriktiven Vorgaben auf die Funkzellenabfrage nach § 100g Abs. 3 StPO ab. Es verfolgt einen flexibleren und – aus seiner Sicht – praxisnäheren Ansatz, der die Ermittlungsbehörden nicht unnötig einschränken soll, während gleichzeitig durch Verhältnismäßigkeitsprüfungen die Grundrechte der Betroffenen gewahrt bleiben.
Diese Rechtsprechung der Landgerichte eröffnet den Ermittlungsbehörden einen erweiterten Spielraum, birgt aber das Risiko von Grundrechtseingriffen, insbesondere durch die Erfassung unbeteiligter Personen. Der BGH hingegen verfolgt einen engeren Ansatz, um den Datenschutz und die Grundrechte der Betroffenen zu schützen. Es zeichnet sich im Ergebnis ab, dass der BGH am Ende nur erntet, was er sät, wenn er jahrzehntelang die Landgerichte so konditioniert hat, dass im Zweifelsfall pro Ermittlungserfolg zu entscheiden ist.
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