Strafrechtlicher Blick auf ein digitales Drogennetzwerk: Mit Urteil vom 5. November 2024 (5 StR 599/23) hat der Bundesgerichtshof (BGH) erneut einen Fall entschieden, der das enorme Spannungsverhältnis zwischen traditionellem Strafrecht und digitaler Kriminalität aufzeigt. Im Zentrum der Entscheidung steht ein Online-Drogenhandel, der in seiner Organisation und technischen Ausgestaltung Parallelen zum berüchtigten „ShinyFlakes“-Fall aufweist, dessen Ersttäter mit vergleichbarem Modus Operandi bereits 2015 verurteilt worden war. Der BGH hatte in diesem Verfahren eine komplexe Revisionslage zu bewerten, die sowohl sachlich-rechtliche als auch verfahrensrechtliche Fragen von erheblicher Tragweite betraf.
Sachverhalt
Die Angeklagten G. und S. entwickelten – beide bereits wegen Betäubungsmitteldelikten inhaftiert – im offenen Vollzug einen Plan zur Errichtung eines Online-Shops für Betäubungsmittel. Nach klassischem arbeitsteiligen Modell übernahm S. die technische Umsetzung, während G. die Beschaffung und Logistik verantwortete. In der operativen Phase beschäftigten sie zwei weitere Beteiligte, darunter den Mitangeklagten M., der unter anderem für die Verpackung und den Versand verantwortlich war. Die Bestellungen wurden über eine eigene Domain abgewickelt, die Bezahlung erfolgte in Bitcoin, welche in Euro umgetauscht und an Geldautomaten abgehoben wurden.
Die Ermittlungen gegen das Netzwerk begannen unter anderem aufgrund verdeckter Bestellungen eines Ermittlers und führten schließlich zur Sicherstellung großer Mengen harter Drogen – darunter Amphetamin, MDMA, Methamphetamin, Kokain, LSD und Ecstasy – sowie zu umfassenden Überwachungsmaßnahmen.
Die rechtlichen Streitfragen
Gewerbsmäßigkeit und nicht geringe Menge
Das Landgericht Leipzig hatte G. und S. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie gewerbsmäßigen Handeltreibens in fünf tateinheitlichen Fällen verurteilt. M. wurde wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig gesprochen.
Die Bewertung der Tat als „gewerbsmäßig“ war vor dem Hintergrund der professionellen, auf Gewinnerzielung angelegten Organisation unproblematisch. Auch die Schwellenwerte für die „nicht geringe Menge“ im Sinne des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG waren deutlich überschritten – allein bei MDMA und Methamphetamin lagen die Wirkstoffmengen weit über den strafbarkeitsbegründenden Grenzwerten.
Bandenmäßigkeit und unterlassene Prüfung nach § 30a BtMG
Der zentrale Kritikpunkt des BGH betraf jedoch die fehlende Prüfung einer möglichen bandenmäßigen Begehung (§ 30a Abs. 1 BtMG). Aus den Feststellungen ergab sich hinreichend, dass sich mindestens drei Personen – G., S. sowie M. und ein gesondert Verurteilter – planvoll zur fortgesetzten Begehung von Betäubungsmitteldelikten zusammengeschlossen hatten. Die gemeinsame Nutzung von Arbeitswohnungen, die arbeitsteilige Aufgabenerfüllung und die abgestimmte Infrastruktur waren hierfür klare Indizien. Das Landgericht hatte insoweit seine Kognitionspflicht verletzt, da es den angeklagten Lebenssachverhalt nicht vollständig strafrechtlich ausgeschöpft und somit die Möglichkeit einer bandenmäßigen Begehung nicht einmal geprüft hatte.
Besitz und Ausfuhr von Betäubungsmitteln
Ein weiterer Aspekt betraf den Mitangeklagten M., der bei der Abarbeitung von Bestellungen eigenhändig auf große Vorräte zugriff, Drogen portionierte und verpackte. Hier hätte das Landgericht zusätzlich eine Täterschaft wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge prüfen müssen (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG). Da nach den Feststellungen auch Auslandsversendungen stattgefunden hatten, lag zudem ein möglicher Fall der unerlaubten Ausfuhr von Betäubungsmitteln vor (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG), was das Landgericht ebenfalls nicht berücksichtigte.
Kryptoerlöse und Einziehung
Im Bereich der Vermögensabschöpfung hob der BGH hervor, dass die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 164.130 Euro gegen G. nicht hinreichend belegt war. Zwar hatte S. diesen Betrag in bar abgehoben, aber eine tatsächliche oder wirtschaftliche Mitverfügungsgewalt G.s war nicht festgestellt worden. Dies genügt nach der ständigen Rechtsprechung nicht zur Anordnung der gesamtschuldnerischen Einziehung gegen G.
Anwendung des neuen Konsumcannabisgesetzes (KCanG)
In den verfahrensgegenständlichen Mengen befand sich auch Haschisch. Da das neue Konsumcannabisgesetz am 1. April 2024 in Kraft trat, hätte das Landgericht prüfen müssen, ob insoweit milderes Recht i.S.v. § 2 Abs. 3 StGB zur Anwendung kommt. Auch dieser Aspekt war verfahrensrelevant, wenngleich der BGH eine Schuldspruchanpassung nach § 354 Abs. 1 StPO explizit unterließ, um dem neuen Tatgericht die umfassende Prüfung zu ermöglichen – sowohl hinsichtlich der BtMG- als auch KCanG-Tatbestände.
Schlussbetrachtung
Diese Entscheidung ist ein bemerkenswertes Beispiel für die Herausforderungen digital organisierter Kriminalität im Strafrecht und zeigt, wie stark klassische Normen – etwa zu Bande, Besitz und Täterschaft – auf neue technische Konstellationen angewendet werden müssen. Besonders hervorzuheben ist die strenge Beachtung der Kognitionspflicht durch den BGH: Auch bei komplexen Sachverhalten darf das Tatgericht sich nicht darauf beschränken, den Lebenssachverhalt auf naheliegende Tatbestände zu reduzieren. Vielmehr ist der strafrechtliche Gehalt voll auszuschöpfen – ein Gebot, das im Zeitalter der digitalisierten Kriminalität aktueller ist denn je.
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