Berufstypische Tätigkeiten im Schneeballsystem

Der BGH zur zivilrechtlichen Beihilfehaftung von Steuerberatern: Die Rolle von Steuerberatern in betrügerischen Kapitalanlagesystemen rückt zunehmend in den Fokus der Rechtsprechung, insbesondere wenn deren Tätigkeit die Geschäftsabwicklung faktisch ermöglicht. In zwei bemerkenswerten Entscheidungen hat sich der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (Urteile vom 3. April 2025 – III ZR 70/24 und vom 14. März 2024 – III ZR 23/24) mit der deliktsrechtlichen Haftung eines Steuerberaters befasst, der über Jahre hinweg für ein betrügerisches „Schneeballsystem“ tätig war. Im Zentrum steht die Frage, unter welchen Voraussetzungen berufstypisch „neutrale“ Tätigkeiten zur zivilrechtlichen Haftung wegen Beihilfe zum Betrug oder vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung führen.

Sachverhalt

Beide Verfahren betreffen die inzwischen insolvente E. GmbH, deren Geschäftsmodell auf dem Vertrieb und der angeblichen Vermietung nicht existenter Datenspeichersysteme beruhte. Anleger wurden durch irreführende Prospekte zur Zeichnung von Überlassungsverträgen und Anleihen bewogen. Die Gesellschaft tätigte jedoch faktisch keine realen Geschäfte, sondern finanzierte Rück- und Mietzahlungen ausschließlich durch Neuanlegergelder – ein klassisches Schneeballsystem.

Die Beklagte, eine Steuerberaterin und Buchhalterin, war seit der Gründung der E. GmbH für das Unternehmen tätig, heiratete später einen der Geschäftsführer und war über Jahre hinweg eng in die Buchhaltung und Finanzsteuerung eingebunden. Im Strafverfahren wurde sie wegen Beihilfe zum Betrug in drei Fällen verurteilt, nachdem sie nach dem Tod ihres Ehemannes ein umfassendes Geständnis abgelegt hatte. Die klagenden Anleger verlangten daraufhin deliktischen Schadensersatz nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB, hilfsweise § 826 BGB.

Zentrale Rechtsfragen und dogmatische Analyse

1. Zivilrechtliche Gehilfenhaftung bei berufstypischem Verhalten

Kernfrage beider Verfahren war, ob die Steuerberaterin durch ihre Tätigkeit in strafrechtlich relevanter Weise Beihilfe zu den von der Gesellschaft begangenen Betrugstaten geleistet hat. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (BGH, stRspr.) kann auch ein „neutraler“ Beitrag wie Buchhaltung oder Steuerberatung eine strafbare Beihilfehandlung darstellen, wenn der Gehilfe die deliktische Haupttat zumindest billigend in Kauf nimmt.

Der BGH unterscheidet insoweit zwei Fallgruppen:

  • Fallgruppe 1: Der Gehilfe weiß sicher, dass das vom Haupttäter geförderte Verhalten allein auf die Begehung einer Straftat ausgerichtet ist (dann stets strafbare Beihilfe).
  • Fallgruppe 2: Der Gehilfe hält deliktisches Verhalten lediglich für möglich, nimmt dieses Risiko aber bewusst in Kauf (dann Beihilfe nur bei hohem Risiko strafbaren Verhaltens).

Die Vorinstanz (OLG Stuttgart) hatte ausschließlich auf Fallgruppe 1 abgestellt und die Beklagte freigesprochen, weil ihr eine sichere Kenntnis vom Schneeballsystem nicht nachgewiesen werden konnte. Der BGH rügt diese Einengung und fordert eine Gesamtwürdigung auch im Rahmen von Fallgruppe 2. Dabei genügt bereits ein Bewusstsein der Beklagten, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ein auf Täuschung ausgerichtetes System fördert.

2. Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung im Zivilprozess (§ 286 ZPO)

Einen weiteren Schwerpunkt legt der BGH auf das Beweismaß im Zivilprozess. Das Berufungsgericht hatte an mehreren Stellen verlangt, die Indizien müssten „zwingend“ auf eine Täterschaft schließen lassen. Der BGH stellt klar, dass § 286 ZPO keine zwingende Überzeugung verlangt, sondern ein aus der Lebenserfahrung abgeleitetes Maß an Sicherheit ausreicht. Gerade bei Indizien sei deren Beweiskraft erst im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu beurteilen. Das OLG hatte die einzelnen Beweise – etwa Zahlungsvorgänge, Liquiditätslage, fehlende Geschäftspartnerdaten – isoliert gewürdigt und so den tatsächlichen Erkenntniswert verkannt.

3. Bedeutung des Geständnisses im Strafverfahren

Der BGH misst dem im Strafverfahren abgelegten umfassenden Geständnis der Beklagten ein erhebliches Gewicht bei. Dieses sei nicht bloß in einer Verteidigererklärung niedergelegt worden, sondern in mehreren Verhandlungsterminen auf Vorhalte des Gerichts erfolgt. Die Strafkammer hatte dessen inhaltliche Richtigkeit durch weitere Beweismittel bestätigt gesehen. Auch die Zustimmung der Beklagten zur Einziehung von Taterträgen aus ihren Steuerberatungsvergütungen spricht für ein belastbares Schuldeingeständnis.

Das Berufungsgericht hatte demgegenüber angenommen, das Geständnis sei taktisch motiviert gewesen, ohne dessen Entstehungsumstände und Belegcharakter hinreichend zu würdigen – auch darin erkennt der BGH einen Rechtsfehler.

4. Fehlende Gesamtabwägung der Indizien

Schließlich rügt der Senat das methodische Vorgehen des OLG. Dieses hatte eine Vielzahl belastender Umstände (fehlende echte Umsätze, abgekürzter Zahlungsweg, Millionen-Barabhebungen ohne Belege, Teilnahme an Statusmeetings, Warnhinweise einer Buchhalterin) jeweils isoliert für nicht beweisführend gehalten, ohne deren Zusammenspiel zu berücksichtigen. Eine Gesamtabwägung, wie sie § 286 ZPO verlangt, unterblieb vollständig. Der BGH betont, dass insbesondere bei wirtschaftskriminellen Tatkomplexen die Konvergenz mehrerer schwächerer Indizien den Ausschlag geben kann.

5. Keine automatische Bindungswirkung strafrechtlicher Verurteilung

Abschließend unterstreicht der Senat – in Übereinstimmung mit früherer Rechtsprechung –, dass eine strafrechtliche Verurteilung keine Bindungswirkung im Zivilprozess entfaltet. Zwar kann ein Geständnis oder ein Strafurteil als gewichtiges Beweismittel im Zivilprozess berücksichtigt werden, es ersetzt aber keine selbständige tatrichterliche Überzeugungsbildung. In der vorliegenden Konstellation hätte das OLG aber jedenfalls die inhaltlichen Aussagen des Geständnisses in seine Abwägung einbeziehen müssen.

Rechtsanwalt Jens Ferner, TOP-Strafverteidiger und IT-Rechts-Experte - Fachanwalt für Strafrecht und Fachanwalt für IT-Recht

Die Entscheidungen mahnen zu sorgfältiger Gesamtwürdigung sämtlicher Indizien und erinnern daran, dass strafprozessuale Geständnisse im Zivilverfahren ein ernstzunehmender Beleg sein können. Für die Praxis bedeutet dies: Wer sich als Berufsgeheimnisträger in die Nähe wirtschaftskrimineller Strukturen begibt, muss nicht nur mit berufsrechtlichen, sondern auch mit zivilrechtlichen Konsequenzen rechnen.

Resümee

Die Urteile des BGH verdeutlichen die differenzierte dogmatische Behandlung berufstypischer „neutraler“ Tätigkeiten im Kontext wirtschaftskrimineller Strukturen. Steuerberater, die im Zentrum eines Schneeballsystems tätig sind, können sich nicht darauf zurückziehen, lediglich „gewöhnliche“ Dienstleistungen erbracht zu haben. Entscheidend ist, ob sie die deliktischen Strukturen erkennen konnten oder mussten – und ob sie sich mit der Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters abgefunden haben.

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Rechtsanwalt Jens Ferner ist erfahrener Fachanwalt für Strafrecht sowie Fachanwalt für IT-Recht mit über einem Jahrzehnt Berufspraxis und widmet sich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht - mit Schwerpunkten in Cybercrime, Cybersecurity, Softwarerecht und Managerhaftung. Er ist zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht sowie zur EU-Staatsanwaltschaft. Als Softwareentwickler ist er in Python zertifiziert und hat IT-Handbücher geschrieben.

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Von Rechtsanwalt Jens Ferner

Rechtsanwalt Jens Ferner ist erfahrener Fachanwalt für Strafrecht sowie Fachanwalt für IT-Recht mit über einem Jahrzehnt Berufspraxis und widmet sich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht - mit Schwerpunkten in Cybercrime, Cybersecurity, Softwarerecht und Managerhaftung. Er ist zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht sowie zur EU-Staatsanwaltschaft. Als Softwareentwickler ist er in Python zertifiziert und hat IT-Handbücher geschrieben.

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