Beweiswürdigung wenn der einzige Belastungszeuge fehlt

Das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG, 206 StRR 227/25) hat in aktueller Entscheidung die hohen Anforderungen an die Beweiswürdigung in Konstellationen präzisiert, in denen der einzige Belastungszeuhe fehlt: Das Urteil hebt das Urteil des Landgerichts München I auf und verweist die Sache zurück, weil die Beweiswürdigung Lücken aufwies, die den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) verletzten.

Sachverhalt: Ein Kassensystem und ein Tatbeteiligter

Der Angeklagte, ein Techniker der Firma W-GmbH, stand im Verdacht, dem Geschäftsführer T. einer Gastronomie-GmbH bei der Steuerhinterziehung geholfen zu haben. Dieser soll ein manipulationsfähiges Kassensystem erworben haben, das es ermöglichte, Umsätze zu verschleiern und so Umsatzsteuer in Höhe von über 90.000 Euro zu hinterziehen. Der Angeklagte bestritt, T. in der Handhabung der Manipulationssoftware geschult oder das System installiert zu haben. Seine Verteidigung stützte sich darauf, dass er erst ab Dezember 2015 bei der W-GmbH angestellt war und erst später Kontakt zu T. hatte.

Das Landgericht München I verurteilte den Angeklagten dennoch wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung in vierzehn Fällen. Maßgeblich waren dabei die Aussagen des T., der als Beschuldigter vernommen worden war und den Angeklagten belastete. Da T. jedoch unbekannten Aufenthalts war, wurden seine Angaben nicht direkt in die Hauptverhandlung eingeführt, sondern durch die Verlesung von Vernehmungsprotokollen und die Aussage des vernehmenden Beamten. Das Gericht sah die Schuld des Angeklagten als erwiesen an – doch das BayObLG erkannte hierin einen entscheidenden Fehler.

Zuverlässigkeit mittelbarer Belastungszeugen

Das BayObLG betont, dass die Anforderungen an die Beweiswürdigung steigen, wenn ein nicht geständiger Angeklagter überwiegend durch die Aussagen eines tatbeteiligten Zeugen überführt werden soll, der selbst nicht persönlich vernommen wird. Der Grund ist einleuchtend: Das Tatgericht kann sich keinen eigenen Eindruck von der Glaubwürdigkeit des Zeugen verschaffen. Stattdessen muss es sich auf die Schilderungen Dritter verlassen – eine Situation, die Fehleranfälligkeit und Zweifel begünstigt.

Das Gericht verweist auf die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), wonach in solchen Fällen eine besonders sorgfältige und vollständige Gesamtwürdigung der Beweisergebnisse erforderlich ist. Dies gilt umso mehr, wenn der Belastungszeuge selbst Tatbeteiligter ist, da hier die Gefahr einer falschen Belastung aus Eigeninteresse besteht. Das Landgericht München I hatte diese erhöhten Anforderungen jedoch nicht erfüllt. Es fehlte an einer umfassenden Prüfung der Aussagekonstanz, der Motivlage des T. und der Plausibilität seiner Angaben.

Ein zentraler Widerspruch lag im behaupteten Zeitpunkt der Schulung durch den Angeklagten: T. gab an, diese habe bereits am 10. Dezember 2015 stattgefunden, während der Angeklagte erst ab dem 16. Dezember 2015 bei der W-GmbH beschäftigt war. Das Landgericht ging dieser Diskrepanz nicht hinreichend nach. Zudem unterblieb eine Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, dass T. – als Haupttäter in einem eigenen Verfahren – ein Interesse daran gehabt haben könnte, den Angeklagten zu belasten, um sich selbst zu entlasten. Dass T. im Rahmen einer Verfahrensabsprache zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war, hätte Anlass geben müssen, seine Aussage kritischer zu hinterfragen.

Defizite der Beweiswürdigung

Das BayObLG moniert mehrere Mängel in der Urteilsbegründung. Erstens wurde die Entwicklung der Aussagen des T. nicht nachvollzogen. Es blieb unklar, ob er seine Belastungen gegenüber dem Angeklagten in späteren Vernehmungen aufrechterhielt oder modifizierte. Zweitens fehlte eine fundierte Bewertung der Motivlage: Hatte T. tatsächlich ein Interesse daran, den Angeklagten als Mittäter darzustellen, um eigene Vorteile zu erlangen? Drittens wurden mögliche Entlastungsmomente – wie der vorgelegte Arbeitsvertrag des Angeklagten – nicht ausreichend gewürdigt.

Besonders problematisch war, dass das Landgericht zwar die Möglichkeit einer Falschbelastung erwähnte, diese aber nicht systematisch prüfte. Die Aussage des vernehmenden Beamten, T. habe sich „reinwaschen“ wollen, wurde schlicht ignoriert. Auch die Frage, ob der Angeklagte möglicherweise auf Anweisung seines Arbeitgebers handelte, blieb unerörtert. Solche Versäumnisse untergraben die Überzeugungskraft des Urteils, da sie den Eindruck erwecken, das Gericht habe sich mit einer oberflächlichen Beweislage zufriedengegeben.

Rechtsanwalt Jens Ferner, TOP-Strafverteidiger und IT-Rechts-Experte - Fachanwalt für Strafrecht und Fachanwalt für IT-Recht

Beweiswürdigung: Kernstück des fairen Verfahrens

Die Beweiswürdigung im Strafprozess ist ein Balanceakt zwischen Überzeugungsbildung und prozessualer Sorgfalt. Besonders heikel wird es, wenn ein tatbeteiligter Belastungszeuge nicht persönlich vernommen wird, sondern seine Aussagen nur mittelbar, beispielsweise durch Vernehmungsprotokolle oder Zeugen vom Hörensagen, in die Hauptverhandlung gelangen. Die Entscheidung des BayObLG macht deutlich, dass die Beweiswürdigung kein bloßer Formalakt ist, sondern das Herzstück eines fairen Strafverfahrens bildet. Gerade bei mittelbaren Belastungszeugen muss das Gericht besonders sorgfältig vorgehen, um Fehlurteile zu vermeiden. Die Aufhebung des Urteils betrifft somit nicht nur die Rechtsanwendung, sondern auch das Vertrauen in die Justiz.

Man kann mitnehmen: Wenn ein tatbeteiligter Zeuge nicht persönlich vernommen werden kann, muss das Gericht seine Aussagen mit besonderer Skepsis prüfen. Dazu gehört die Analyse der Aussageentwicklung, die Prüfung möglicher Motive für eine Falschbelastung und die Berücksichtigung entlastender Umstände. Nur so lässt sich sicherstellen, dass ein Schuldspruch auf einer tragfähigen Grundlage beruht und nicht auf vagen Vermutungen. Die Entscheidung ist zudem ein Appell an die Instanzgerichte, sich nicht mit halbgaren Beweiswürdigungen zu begnügen. Denn im Zweifel gilt: in dubio pro reo. Dieser Grundsatz verliert nicht an Bedeutung, nur weil ein Belastungszeuge nicht im Gerichtssaal erscheint.

Konsequenz: Aufhebung und Rückverweisung

Weil die Beweiswürdigung nicht den notwendigen Standards entsprach, hob das BayObLG das Urteil auf und verwies die Sache zur Neuverhandlung zurück. Dabei gab es dem neuen Tatgericht konkrete Hinweise mit auf den Weg: Es solle geprüft werden, ob eine persönliche Vernehmung des Zeugen – etwa durch Rechtshilfeersuchen ins Ausland – möglich sei. Zudem müsse eine detailliertere Darstellung der Steuerhinterziehung erfolgen, insbesondere der genauen Umstände der Umsatzmanipulationen.

Interessant ist auch der Hinweis des Senats zur Strafzumessung: Der lange Zeitabstand zwischen Tat und Aburteilung (nahezu zehn Jahre) sei strafmildernd zu berücksichtigen. Dies unterstreicht, dass nicht nur die Beweisführung, sondern auch die Verfahrensdauer eine Rolle spielt – ein Aspekt, der in der Praxis oft unterschätzt wird.

Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht bei Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf
Rechtsanwalt Jens Ferner ist Spezialist für Strafverteidigung (insbesondere bei Wirtschaftskriminalität wie Geldwäsche, Betrug bis zu Cybercrime) sowie für IT-Recht (Softwarerecht und KI, IT-Vertragsrecht und Compliance) mit zahlreichen Publikationen. Als Fachanwalt für Strafrecht und IT-Recht vertrete ich Mandanten in komplexen Zivil- und Strafverfahren, insbesondere bei streitigen Fragen im Softwarerecht, bei der Abwehr von strafrechtlichen Vorwürfen oder Ansprüchen in der Managerhaftung sowie bei der Einziehung von Vermögenswerten. Mein Fokus liegt auf der Schnittstelle zwischen technischem Verständnis und juristischer Strategie, um Sie in digitalen Fällen und wirtschaftlichen Strafsachen effektiv zu verteidigen und zu beraten.

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Von Rechtsanwalt Jens Ferner

Rechtsanwalt Jens Ferner ist Spezialist für Strafverteidigung (insbesondere bei Wirtschaftskriminalität wie Geldwäsche, Betrug bis zu Cybercrime) sowie für IT-Recht (Softwarerecht und KI, IT-Vertragsrecht und Compliance) mit zahlreichen Publikationen. Als Fachanwalt für Strafrecht und IT-Recht vertrete ich Mandanten in komplexen Zivil- und Strafverfahren, insbesondere bei streitigen Fragen im Softwarerecht, bei der Abwehr von strafrechtlichen Vorwürfen oder Ansprüchen in der Managerhaftung sowie bei der Einziehung von Vermögenswerten. Mein Fokus liegt auf der Schnittstelle zwischen technischem Verständnis und juristischer Strategie, um Sie in digitalen Fällen und wirtschaftlichen Strafsachen effektiv zu verteidigen und zu beraten.

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