Aktuelle BGH-Entscheidungen im Spiegel des § 17 JGG: Drei Entscheidungen des Bundesgerichtshofs aus dem ersten Halbjahr 2025 bieten einen facettenreichen Einblick in die dogmatisch anspruchsvolle und praktisch folgenreiche Anwendung des § 17 Jugendgerichtsgesetz (JGG). Sie zeigen, wie differenziert und zugleich fehleranfällig die Voraussetzungen der Jugendstrafe – insbesondere im Hinblick auf das Vorliegen schädlicher Neigungen und die Schwere der Schuld – im konkreten Einzelfall zu prüfen sind. Dabei werden zugleich die Anforderungen an die richterliche Begründungspflicht geschärft, was für Tatgerichte wie Verteidigung und Staatsanwaltschaft gleichermaßen von Bedeutung ist.
Der rechtliche Rahmen: Jugendstrafe als Ausnahmefall
Gemäß § 17 Abs. 2 JGG darf eine Jugendstrafe nur verhängt werden, wenn entweder schädliche Neigungen vorliegen oder die Schwere der Schuld eine solche gebietet. Diese zweistufige Konzeption entspricht dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts, der den Strafzweck des Schuldausgleichs grundsätzlich überlagert. Die Annahme einer der beiden Voraussetzungen ist jedoch nicht beliebig; vielmehr ist sie an strenge materielle und formale Maßstäbe gebunden. Die drei besprochenen Entscheidungen illustrieren, welche Anforderungen in der Praxis daran zu stellen sind – und wo Gerichte dabei scheitern.
BGH, Beschl. v. 21.05.2025 – 2 StR 181/25: Keine schädlichen Neigungen wegen Schulabbruch
Im Ausgangspunkt hatte das LG Limburg a. d. Lahn gegen einen Heranwachsenden eine zweijährige Jugendstrafe wegen Handeltreibens mit Cannabis und Haschisch verhängt. Es stützte sich auf schädliche Neigungen des Angeklagten, insbesondere mit Blick auf fehlenden Schulabschluss und Berufsausbildung. Der BGH hob den Strafausspruch auf und verweist die Sache zurück: Weder deuten diese biografischen Daten indiziell auf eine „erhebliche Persönlichkeitsstörung“ hin, noch wurde der Fortbestand solcher Neigungen im Urteilszeitpunkt überzeugend dargelegt. Zwischen Tat und Urteil lagen 22 Monate ohne neue Delinquenz – ein Aspekt, den das Tatgericht nicht ausreichend gewürdigt hatte.
Bemerkenswert ist auch die Beanstandung der parallelen Herleitung einer Jugendstrafe aus „Schwere der Schuld“. Das Tatgericht hatte auf die Gefahr durch Cannabis und die Unbeeinflusstheit durch gesetzliche Änderungen verwiesen – also auf abstrakt-normative Gesichtspunkte. Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH ist jedoch eine individuell-persönlichkeitsbezogene Betrachtung zwingend. Der äußere Unrechtsgehalt einer Tat genügt nicht; er ist lediglich ein Anknüpfungspunkt für die Bewertung der inneren Tatseite.
BGH, Beschl. v. 18.06.2025 – 4 StR 545/24: Positive Entwicklung schließt schädliche Neigungen aus
Im zweiten Fall hatte das LG Landau einen jugendlichen Drogenhändler wegen bandenmäßigen Handels mit erheblichen Mengen Cannabis und Kokain zu einer Jugendstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt, ohne schädliche Neigungen festzustellen. Die Staatsanwaltschaft beanstandete dies – erfolglos. Der BGH bestätigte die Feststellungen des Tatgerichts: Trotz des massiven Drogenhandels sei beim Angeklagten ein deutlicher positiver Entwicklungsverlauf erkennbar gewesen, unter anderem durch ein geständiges, einsichtiges Verhalten und Kooperation mit den Behörden. Die Kammer hatte sich zudem der Einschätzung der Jugendgerichtshilfe angeschlossen, wonach der Angeklagte selbstkritisch und reflektiert sei.
Der Beschluss zeigt exemplarisch, dass selbst schwerwiegende Straftaten nicht automatisch mit dem Vorliegen schädlicher Neigungen gleichgesetzt werden dürfen. Entscheidend ist der Zustand im Zeitpunkt der Urteilsfindung – und dieser kann durch genuine Reifung und Entwicklung des Angeklagten durchbrochen werden. Der BGH fordert insoweit eine dynamische und gegenwartsbezogene Bewertung.
BGH, Urt. v. 02.04.2025 – 6 StR 482/24: Gewaltverbrechen und die dogmatische Pflicht zur Abwägung
Im dritten Fall wurde deutlich, welche Maßstäbe bei der Prüfung der Schuldschwere im Sinne von § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG zu gelten haben – und wie eine fehlerhafte Begründung zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs führen kann. Zwei Heranwachsende hatten, inspiriert durch „Gangstervideos“, einen bewaffneten Raubüberfall mit Sturmhauben, Softairwaffe und Messer geplant und versucht. Das LG Hannover hatte dennoch auf Zuchtmittel erkannt. Der BGH beanstandete diese Entscheidung mit Nachdruck: Gerade weil es sich um ein schweres Gewaltverbrechen mit vorbereitender Planung, Maskierung und Einsatz von Drohmitteln handelte, hätte der äußere Unrechtsgehalt in die Abwägung einbezogen werden müssen.
Der Senat erinnerte daran, dass der Schuldausgleich – gerade bei Gewaltdelikten – eine eigenständige Legitimationsbasis für die Jugendstrafe darstellen kann. Ein Verzicht auf Strafe sei bei einem solchen Ausmaß an Vorwerfbarkeit mit dem Rechtsstaatsprinzip schwer vereinbar, zumal der Erziehungsgedanke nicht allein ausschlaggebend ist.
Bilanz: Differenzierung statt Automatismus
Die drei Entscheidungen verdeutlichen, wie differenziert die Voraussetzungen des § 17 Abs. 2 JGG zu prüfen sind. Weder darf das Vorliegen schädlicher Neigungen pauschal aus lückenhafter Schulbiografie geschlossen werden, noch genügt die Schwere eines Delikts per se für eine Jugendstrafe. Beide Tatbestandsvarianten verlangen eine sorgfältige, tatsachenbasierte und gegenwartsbezogene Analyse. Gleichzeitig betont der BGH, dass bei gravierenden Gewaltverbrechen oder planvollem kriminellen Verhalten der Strafzweck des gerechten Schuldausgleichs nicht hinter erzieherische Erwägungen zurücktreten darf.
- BGH-Urteil zu Online-Coaching und FernUSG: Aktueller Stand - 16. November 2025
- Unterlassene Zielvereinbarung: Schadensersatz und Grenzen arbeitsvertraglicher Ausschlussfristen - 15. November 2025
- Verschärfung des Umweltstrafrechts 2025 - 15. November 2025
