Steuerhinterziehung in der Pandemie: Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 29. April 2025 (1 StR 238/24) nimmt sich auf den ersten Blick wie ein typischer Steuerstrafrechtsfall aus: gewerblicher Erfolg, kreative Gestaltungsmodelle und ein ambitioniertes Maß an Steuervermeidung.
Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass es dem BGH hier um mehr ging als um die bloße Sanktionierung eines wirtschaftlich lukrativen, aber steuerlich fragwürdigen Geschäftsmodells. Der Beschluss wirft grundlegende Fragen auf – insbesondere zur Rückwirkungsfiktion bei Umwandlungen, zur steuerrechtlichen Einordnung von Betriebsstätten und zur dogmatischen Einhegung steuerlicher Gestaltungsspielräume im Lichte des § 370 AO.
Sachverhalt
Im Frühjahr 2020 – im unmittelbaren Zusammenhang mit dem pandemiebedingten Engpass an medizinischer Ausrüstung – vermittelte die Angeklagte T. hochvolumige Verträge über Schutzmasken im Wert von über 250 Millionen Euro zwischen einem Schweizer Lieferanten und verschiedenen staatlichen Stellen in Deutschland. Die hierfür erhaltene Provision betrug knapp 11,5 Millionen Euro.
In enger Abstimmung mit ihrem Lebensgefährten, dem Mitangeklagten N., konzipierte sie sodann ein vermeintlich steuerschonendes Modell: Es wurde behauptet, die Provisionseinkünfte seien nicht von ihr als Einzelunternehmerin erzielt worden, sondern von einer rückwirkend auf den 1. März 2020 gegründeten GbR mit N. als gleichberechtigtem Gesellschafter. Diese GbR sei anschließend in eine GmbH-Struktur eingebracht worden. Parallel dazu wurde gegenüber den Finanzbehörden wahrheitswidrig ein Betriebsstättensitz in einer sogenannten „Gewerbesteueroase“ vorgetäuscht, um den hohen Hebesatz am tatsächlichen Tätigkeitsort München zu umgehen. Die auf dieser Grundlage gestellten Anträge führten zu erheblichen Verkürzungen von Einkommen- und Gewerbesteuer.
Juristische Analyse
I. Rückwirkende Einbringung in Kapitalgesellschaften nach § 20 UmwStG
Im Zentrum der strafrechtlichen Würdigung stand zunächst die Frage, ob die angebliche Rückbeziehung des steuerlichen Übertragungsstichtags auf den 1. März 2020 im Sinne von § 20 Abs. 5 UmwStG zutreffend war. Der BGH erkennt in seiner Entscheidung an, dass die Rückwirkung grundsätzlich zulässig ist, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen – insbesondere eine zum fraglichen Stichtag bestehende Mitunternehmerschaft. Die Revision der Angeklagten wurde in diesem Punkt jedoch wegen tatsächlicher Zweifel eingestellt: Es sei nicht mit der nötigen Sicherheit auszuschließen, dass bereits am 1. März 2020 eine BGB-Innengesellschaft bestanden habe, der die Provisionsforderungen zustanden.
Bemerkenswert ist hierbei, dass der Senat auch eine wirtschaftlich nicht tragfähige Tätigkeit des angeblich Mitunternehmenden – hier N., der lediglich emotionale Unterstützung und marginale Erstkontakte beisteuerte – nicht per se als Ausschlusskriterium für eine Mitunternehmerschaft wertet. Der strafrechtlich bedeutsame Vorwurf einer Einkommensteuerverkürzung fiel insoweit weg.
II. Gewerbesteuerverkürzung durch Scheinsitz: Täuschung über die Betriebsstätte
Im Unterschied dazu hält der BGH die Feststellungen zur Gewerbesteuerhinterziehung für tragfähig. Die Angeklagten hatten die Geschäftsleitung der L. P. GmbH bewusst an eine nur formal existierende Adresse in G. verlegt, obwohl sämtliche unternehmerischen Entscheidungen faktisch von München aus getroffen wurden. Auch die dort angemieteten Räume wurden weder regelmäßig noch substantiell genutzt; es handelte sich um ein klassisches Briefkastenkonstrukt ohne tatsächliche Verfügungsmacht. Damit war das Tatbestandsmerkmal der unrichtigen Angabe im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO erfüllt.
Der BGH stellt in methodischer Klarheit heraus, dass die sogenannte hebeberechtigte Gemeinde sich gemäß § 4 GewStG nach dem tatsächlichen Ort der Geschäftsleitung bestimmt. Dabei sei der Begriff der Betriebsstätte im Sinne der Gewerbesteuer an § 12 AO zu messen, der wiederum auf die Geschäftsleitung gemäß § 10 AO verweist. Entscheidend ist der Ort der geschäftlichen Oberleitung – jener Punkt, an dem laufende Entscheidungen getroffen werden und die Leitungsmacht ausgeübt wird. Ein schematischer Rückgriff auf statuarische Sitze oder formale Mietverträge genügt nicht.
III. Der steuerstrafrechtliche Taterfolg bei Gewerbesteuervorauszahlungen
Ein ebenfalls relevanter Aspekt betrifft die dogmatische Einordnung der Steuerverkürzung im Stadium der Vorauszahlungen. Der BGH hebt hervor, dass nicht schon der (formal) zu niedrige Messbescheid den strafbegründenden Taterfolg darstelle, sondern vielmehr die Nichtfestsetzung von Gewerbesteuervorauszahlungen durch die tatsächlich zuständige Gemeinde – hier: München – das tatbestandliche Merkmal der „Verkürzung“ im Sinne des § 370 Abs. 4 AO erfülle. Der Kausalzusammenhang zwischen unrichtigen Angaben und Steuerverkürzung sei insbesondere dadurch gegeben, dass die falsche Information den behördlichen Informationsfluss in steuerlich erheblicher Weise lenkte.
Zugleich präzisiert das Gericht, dass auch die nur scheinbare Existenz einer „weiteren“ Betriebsstätte am vermeintlichen Sitz nicht geeignet sei, eine Zerlegung nach §§ 28 ff. GewStG auszulösen. Eine Raumteilung mit über 20 anderen Firmen ohne echte Verfügungsmacht stelle keine Betriebsstätte im Sinne des Gewerbesteuerrechts dar.
Resümee
Die Entscheidung zeigt exemplarisch, mit welcher Detailtiefe sich der Bundesgerichtshof den dogmatisch komplexen Verästelungen des Steuerstrafrechts widmet. Besonders die differenzierte Behandlung der Rückwirkungsfiktion nach § 20 UmwStG und der präzise Betriebsstättenbegriff im Kontext der Gewerbesteuer verdeutlichen das Anliegen des Senats, Gestaltungsspielräume steuerlich zulässiger Modelle klar von strafbaren Scheinstrukturen abzugrenzen.
Rechtsdogmatisch ist die Entscheidung ein Lehrstück für die Bedeutung materiell-rechtlicher Tatbestandsmerkmale im Kontext von Umwandlungsrecht und steuerlicher Lokalisierung. Praktisch stellt sie einen deutlichen Fingerzeig für Berater, Unternehmen und Finanzämter dar: Der Schein genügt nicht. Wer bewusst eine steuerrechtlich relevante Tatsache konstruiert – sei es eine Mitunternehmerschaft oder eine Geschäftsleitungsbetriebsstätte – trägt das strafrechtliche Risiko, wenn die Tatsachengrundlage nicht standhält. Die Gewerbesteuer mag vielen als wenig glamourös erscheinen; ihr fehlerhafter Umgang kann gleichwohl zu Freiheitsstrafen führen.
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