In seinem Urteil vom 30. Januar 2025 (Az. 5 StR 528/24) hat der Bundesgerichtshof (BGH) die Reichweite der Beweisverwertung im Kontext der EncroChat-Kommunikation neu austariert – und dabei nicht nur die Grenzen des nationalen Strafprozessrechts ausgelotet, sondern auch eine unionsrechtliche Neuausrichtung vorgenommen. Der Fall steht exemplarisch für die gegenwärtige Friktion zwischen technologiebasierter Strafverfolgung und rechtsstaatlicher Kontrolle in einem sich wandelnden materiellen Rechtssystem, insbesondere unter dem Eindruck der Neuregelungen durch das Konsumcannabisgesetz (KCanG).
Im Zentrum der Entscheidung stehen zwei Fragen: Zum einen, ob auf EncroChat-Kommunikation gestützte Erkenntnisse auch dann verwertbar sind, wenn die angeklagten Taten – hier: Handeltreiben mit Cannabis in nicht geringer Menge – seit Inkrafttreten des KCanG nicht mehr als Katalogtat im Sinne des § 100b Abs. 2 StPO gelten. Zum anderen, ob die Datenübermittlung durch französische Behörden auf Basis einer Europäischen Ermittlungsanordnung mit dem unionsrechtlichen Maßstab vereinbar ist, wie ihn der Europäische Gerichtshof (EuGH) jüngst formuliert hat.
Der Fall: Teilverurteilung und Freispruch wegen Cannabisgeschäft – aufzuheben
Das Landgericht Berlin hatte den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen verurteilt und ihn im Übrigen – in sechs Fällen – freigesprochen. Diese betrafen Handel mit Cannabisprodukten im Kilobereich, der allein auf EncroChat-Kommunikation gestützt war. Das Landgericht nahm insoweit ein Beweisverwertungsverbot an, da es sich bei den betroffenen Delikten nicht mehr um Katalogtaten gemäß § 100b Abs. 2 StPO handele. Diese Bewertung wurde durch die Gesetzesänderung zum 1. April 2024 – mithin nach Tatzeit und Anklageerhebung – veranlasst. Der BGH hebt diese Freisprüche auf und stellt klar: Maßgeblich für die Beurteilung der Verwertbarkeit bleibt der Zeitpunkt der Beweiserhebung und Übermittlung, nicht eine spätere Änderung der Rechtslage.
Der Maßstab der Beweisverwertung: Dynamik des Verfahrensrechts
Die Entscheidung reiht sich ein in die bisherige Rechtsprechung des 5. Strafsenats zur Verwertbarkeit von EncroChat-Daten. Der Senat wiederholt und vertieft dabei seine grundlegende Linie: Beweise, die durch eine rechtmäßige europäische Ermittlungsanordnung erlangt wurden – hier: durch eine von Frankreich erhobene und an deutsche Ermittlungsbehörden übermittelte Kommunikation – dürfen grundsätzlich verwendet werden, sofern die Maßnahme bei einem vergleichbaren innerstaatlichen Sachverhalt zulässig gewesen wäre. Dabei kommt es auf das deutsche Recht zum Zeitpunkt des Erlasses der Ermittlungsanordnung an – nicht auf spätere strafrechtliche Neubewertungen der betroffenen Taten.
Diese zeitliche Fixierung ist entscheidend, weil das Cannabisgesetz bestimmte Delikte aus dem Katalog des § 100b Abs. 2 StPO entfernt hat, sodass sie heute nicht mehr Anlass für eine entsprechende Telekommunikationsüberwachung sein könnten. Gleichwohl, so der Senat, bleibt die Verwertung der bereits erhobenen Daten zulässig, da sie zum Zeitpunkt ihrer Übermittlung unter dem damals geltenden Recht rechtmäßig angefordert wurden.
Unionsrechtlicher Rahmen: Der Einfluss des EuGH
Der BGH greift in seiner Entscheidung auch die neue unionsrechtliche Auslegung des EuGH zum Verhältnis von Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung (RL EEA) auf. Der EuGH hatte in der Entscheidung C‑670/22 klargestellt, dass die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Ermittlungsmaßnahme bei europäischer Beweisanforderung den Maßstäben des nationalen Rechts des Anordnungsstaates entsprechen müssen. Der BGH akzeptiert diese Auslegung ausdrücklich und passt seine bisherige Rechtsprechung insoweit an. Der Prüfungsmaßstab verschiebt sich damit von der Beweisverwendung in der Hauptverhandlung zur Vorprüfung bei der Anordnung der Ermittlungsmaßnahme – was im Ergebnis allerdings keine Änderung der Verwertbarkeit im konkreten Fall zur Folge hatte.
Bemerkenswert ist hierbei, dass auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 1. November 2024 (2 BvR 684/22) keinen Anlass sah, die bisherige Handhabung des BGH zu beanstanden. Die nunmehr erfolgte Angleichung an die EuGH-Rechtsprechung bringt lediglich eine systematische Präzisierung, ohne die materiellen Aussagen der BGH-Judikatur in Frage zu stellen.
Strafprozessuales Fazit: Keine rückwirkende Unverwertbarkeit
Der BGH stellt klar, dass die strafprozessuale Verwertung von Kommunikationsdaten nicht rückwirkend unzulässig wird, wenn sich der zugrunde liegende Straftatbestand nachträglich ändert – etwa durch Entkriminalisierung oder Absenkung des Strafrahmens. Dies gilt auch dann, wenn die betroffene Tat nicht mehr als Katalogtat für heimliche Ermittlungsmaßnahmen taugt. Ein einmal rechtmäßig eingeführtes Beweismittel bleibt verwertbar, sofern es nicht gegen elementare rechtsstaatliche Grundsätze verstößt – wofür im konkreten Fall keine Anhaltspunkte bestanden. Das Tatgericht hatte die Beweise zu Unrecht ausgeblendet und die notwendige Tatsachenermittlung unterlassen.
Die Entscheidung unterstreicht damit die Bedeutung der Verfahrensautonomie des deutschen Strafrechts gegenüber materiell-rechtlichen Entwicklungen. Auch die Orientierung an unionsrechtlichen Anforderungen wird nicht zum Einfallstor für rückwirkende Verwertungsverbote – im Gegenteil: Der BGH integriert europäische Maßstäbe mit verfassungsrechtlicher Sorgfalt und prozessualer Kontinuität.
Schlussfolgerung
In der Kernaussage verdeutlicht das Urteil, dass die strafprozessuale Beweisverwertung einer zeitlichen Stabilität unterliegt: Beweise, die zum Zeitpunkt ihrer Erlangung rechtmäßig waren, bleiben verwertbar – auch bei späterer Entkriminalisierung der zugrunde liegenden Tat. Das stärkt die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit strafprozessualer Verfahren und wahrt zugleich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durch eine abgestufte, an rechtsstaatlichen Maßstäben orientierte Kontrolle.
Für die Praxis bedeutet dies: Ermittlungsbehörden können weiterhin auf EncroChat-Daten zurückgreifen, sofern die ursprüngliche Anforderung rechtlich zulässig war. Tatgerichte wiederum sind gehalten, diese Daten nicht reflexartig auszuschließen, sondern ihre Verwendung im Lichte der damaligen Rechtslage zu prüfen und – bei fortbestehender Prozessualität – in die Beweiswürdigung einzubeziehen.
Der BGH liefert mit seiner Entscheidung ein Beispiel für rechtspolitisch wache, zugleich dogmatisch gefestigte Strafrechtspflege – und bringt ein Maß an Rechtssicherheit in ein Feld, das durch technische Innovationen, europäische Rechtsvielfalt und politische Sensibilitäten besonders herausgefordert ist.