BGH zur Beweiswürdigung und Darlegungspflicht im Bereich kinderpornographischer Straftaten

Mit Beschluss vom 29. Januar 2025 (Az. 2 StR 482/24) hat der ein Urteil des Landgerichts Wiesbaden wegen unzureichender Feststellungen aufgehoben, das den Angeklagten unter anderem wegen Besitzverschaffung kinderpornographischer Schriften zu einer mehrjährigen verurteilt hatte. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die juristisch und tatsächlich anspruchsvolle Gratwanderung zwischen effektiver Strafverfolgung im besonders sensiblen Bereich des Sexualstrafrechts einerseits und den verfahrensrechtlichen Anforderungen an eine tragfähige Überzeugungsbildung andererseits.

Im Zentrum der Entscheidung steht die Frage, wie Gerichte mit umfangreichem, digitalem Beweismaterial – etwa Bild- und Videodateien mit strafbarem Inhalt – umgehen dürfen, wenn sie sich dabei maßgeblich auf die Einschätzung von Sachverständigen stützen. Der BGH fordert in bemerkenswerter Deutlichkeit eine sorgfältigere, nachvollziehbarere Urteilsbegründung – nicht etwa, weil er Zweifel am Sachverhalt hegt, sondern weil die tragenden Elemente der richterlichen Überzeugung nicht transparent genug dargelegt wurden.

Der Fall: Besitzverschaffung in mehreren Konstellationen

Dem Angeklagten wurde zur Last gelegt, in zahlreichen Fällen kinderpornographisches Material empfangen, gespeichert, verbreitet und in Einzelfällen auch Dritten zugänglich gemacht zu haben. Dabei nutzte er verschiedene Wege – von individuellen Chatkontakten über Messengergruppen bis hin zu Speichermedien. In mehreren Fällen stand der Besitz in Tateinheit mit jugendpornographischen Inhalten. Das Landgericht Wiesbaden hatte ihn wegen insgesamt 17 Einzeltaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, wobei zwei Monate als vollstreckt galten. Die Einordnung der konkreten Inhalte erfolgte überwiegend gestützt auf Gutachten eines externen Sachverständigen, ohne dass deren Inhalte oder methodischen Grundlagen im Urteil näher beschrieben wurden.

Die Rüge des BGH: Mangelhafte Darlegungsstruktur

Der Bundesgerichtshof bemängelt nicht die rechtliche Qualifikation als solche, sondern die lückenhafte Begründung der Beweiswürdigung. Zwar sei es zulässig, bei umfangreichen Datenmengen eine exemplarische Beschreibung zu wählen. Auch müsse das Gericht nicht sämtliche Dateien eigenhändig sichten, sondern könne sich auf sachverständige Auswertung stützen – etwa durch Ermittlungsbeamte oder forensische Gutachter mit entsprechender Erfahrung. Doch diese Möglichkeit entbindet das Gericht nicht von der Pflicht, die zentralen Schritte der Überzeugungsbildung darzulegen.

Konkret sei weder erkennbar, mit welchem Auftrag der Gutachter befasst wurde, noch auf welche methodischen Grundlagen er seine Einschätzung stützte. Das Urteil lasse offen, wie viele Dateien überhaupt ausgewertet wurden, ob diese vollständig oder nur stichprobenartig untersucht wurden, in welcher Weise die sexuelle Konnotation festgestellt wurde oder wie die Alterszuordnung der abgebildeten Personen erfolgte. Diese Lücken sind nicht bloß formaler Natur, sondern betreffen den Kern der Subsumtion: Der Straftatbestand des § 184b StGB (in seiner tatzeitlich anwendbaren Fassung) setzt voraus, dass es sich tatsächlich um Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern handelt – eine Feststellung, die auf objektiven Anhaltspunkten beruhen muss und die dem Gericht nicht pauschal durch Dritte abgenommen werden darf.

Zur Rolle des Sachverständigen und der standardisierten Begutachtung

Bemerkenswert ist, dass der Senat ausdrücklich anerkennt, dass sich Gerichte technischer und inhaltlicher bedienen dürfen – etwa zur Klassifikation von Bildmaterial. Gerade im Bereich der digitalen Kriminalität ist eine vollständige persönliche Durchsicht durch die Strafkammer häufig weder praktikabel noch notwendig. Umso wichtiger ist aber, dass die Aussagen des Sachverständigen in der Urteilsbegründung so wiedergegeben werden, dass ihre Tragfähigkeit überprüfbar bleibt. Dazu gehört die Beschreibung der Methode (z. B. standardisierte Klassifikationssysteme), die Erläuterung zentraler Bewertungskriterien (etwa Altersindizien, sexuelle Handlung, Kontextszenarien) sowie eine nachvollziehbare Darlegung, warum die Kammer diese Einschätzungen übernimmt.

Die bloße Bezugnahme auf ein Gutachten oder dessen mündliche Erläuterung in der genügt dem nicht – zumal der BGH nicht erkennen konnte, ob sich der Gutachter überhaupt zu inhaltlichen, oder allein zu technischen Fragen geäußert hatte. Dies lässt die tatrichterliche Überzeugung angreifbar erscheinen, was im Ergebnis zur Aufhebung der gesamten Entscheidung führte.

Weiterer Klärungsbedarf: Konkurrenzverhältnisse und Einzeltaten

Der BGH nimmt die Aufhebung auch zum Anlass, auf ein weiteres strukturelles Problem hinzuweisen: Die Abgrenzung zwischen mehreren Besitzdelikten und fortgesetztem Verhalten. Insbesondere bei digitalem Material auf verschiedenen Datenträgern oder bei unterschiedlichen Besitzsituationen ist zu klären, ob tatsächlich mehrere Taten vorliegen oder ob es sich um eine rechtlich einheitliche Handlung handelt. Auch dies war vom Landgericht nicht sauber herausgearbeitet worden. Für das neue Tatgericht wird es darauf ankommen, eine differenzierte Betrachtung nach Besitzsituation, Verschaffung, Tatzeitpunkt und Tatmittel vorzunehmen.


Fazit

In der Kernaussage erinnert der Beschluss des Bundesgerichtshofs daran, dass gerade bei schwerwiegenden Vorwürfen im Bereich sexueller Missbrauchsdarstellungen höchste Anforderungen an die Nachvollziehbarkeit und Präzision der Urteilsbegründung zu stellen sind. Die Wahrheit darf im Strafverfahren nicht vermutet, sondern muss im Rahmen eines rechtsstaatlichen Beweisverfahrens überzeugend begründet werden – auch und gerade dann, wenn digitale Beweismittel, sachverständige Auswertungen und große Datenmengen im Spiel sind.

Das Urteil ist kein Freispruch für den Angeklagten – sondern eine Mahnung an die Strafgerichte, ihre zentrale Aufgabe, nämlich die Rekonstruktion und rechtliche Einordnung von Tatgeschehen, mit der gebotenen methodischen Sorgfalt zu erfüllen. Die technische Realität des digitalen Sexualstrafrechts verlangt nach justizieller Präzision – nicht nach pauschaler Verurteilung. Der Beschluss des BGH ist ein Ausdruck dieser rechtsstaatlichen Zurückhaltung.

Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht bei Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf
Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht mit Schwerpunkt Cybersecurity & Softwarerecht. Ich bin zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht und zur EU-Staatsanwaltschaft.Als Softwareentwickler bin ich in Python zertifiziert und habe IT-Handbücher geschrieben.

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