Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem Beschluss vom 1. November 2024 (2 BvR 684/22) entschieden, dass die Verwertung von EncroChat-Daten in deutschen Strafverfahren nicht gegen die Verfassung verstößt. Diese Entscheidung fügt sich in die bestehende Rechtsprechung ein und setzt einen wichtigen Akzent in der Diskussion um digitale Beweismittel und Beweisverwertungsverbote.
Hintergrund: EncroChat – Eine kriminelle Kommunikationsplattform
EncroChat war ein verschlüsselter Messenger-Dienst, der nahezu ausschließlich von Kriminellen genutzt wurde. Französische Behörden infiltrierten die Plattform und erhoben Millionen von Nachrichten, die später über eine Europäische Ermittlungsanordnung (EEA) an andere europäische Länder, darunter Deutschland, übermittelt wurden. Die gewonnenen Daten führten zu zahlreichen Ermittlungen und Verurteilungen, wobei die Rechtsmäßigkeit der Beweiserhebung und -verwertung immer wieder angezweifelt wurde.
Was entschied das Bundesverfassungsgericht?
Das BVerfG wies eine Verfassungsbeschwerde zurück, die sich gegen die Verwertung von EncroChat-Daten richtete. Der Beschwerdeführer argumentierte, die Daten seien in Frankreich unter Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien erhoben worden, was ein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen müsse. Das BVerfG hielt dagegen:
- Kein generelles Beweisverwertungsverbot: Nach deutschem Recht gibt es kein pauschales Verbot, im Ausland erhobene Beweise zu verwerten. Entscheidend ist, ob die Beweiserhebung wesentliche rechtsstaatliche Grundsätze verletzt hat. Das BVerfG stellte fest, dass die französische Maßnahme auf einer richterlichen Genehmigung beruhte und sich gegen eine „nahezu ausschließlich kriminelle Klientel“ richtete.
- Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung: Innerhalb der EU gilt das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens. Nationale Gerichte dürfen grundsätzlich davon ausgehen, dass andere Mitgliedstaaten die Grundrechte wahren. Diese Vermutung ist nur widerlegbar, wenn gravierende Rechtsverletzungen vorliegen, die im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen wurden.
- Verhältnismäßigkeit und Kernbereichsschutz: Die Verwertung der Daten verletzt laut BVerfG weder das allgemeine Persönlichkeitsrecht noch den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Die Eingriffe in Grundrechte seien durch das hohe öffentliche Interesse an der Bekämpfung schwerster Straftaten gerechtfertigt.
- Verfahrensfragen: Der Anspruch auf rechtliches Gehör wurde nicht verletzt, obwohl das Landgericht sich in seinem Urteil nicht explizit mit der Verwertbarkeit der EncroChat-Daten auseinandersetzte. Nach Auffassung des BVerfG besteht keine Verpflichtung, Verfahrensfragen in den Urteilsgründen zu erörtern.
Kontext: Frühere Rechtsprechung und Entwicklungen
Die Entscheidung des BVerfG reiht sich in eine Serie von Urteilen deutscher Gerichte ein, die eine Verwertbarkeit von EncroChat-Daten bestätigt haben. Dabei wurde stets betont, dass es auf den konkreten Einzelfall ankommt und die Verhältnismäßigkeit gewahrt sein muss.
Frühere Verfahren haben gezeigt, dass die Verteidigung oft auf pauschale Argumente wie vermeintliche Beweisverwertungsverbote setzt. Diese Strategie ist jedoch selten erfolgreich und kann wertvolle Zeit und Ressourcen verschwenden. Stattdessen ist eine differenzierte Betrachtung der Rolle des Beschuldigten – etwa die Abgrenzung zwischen Täter und Gehilfe – entscheidend, um die Strafe zu mildern.
Kritik am BGH und verpasste Obliegenheiten des Beschwerdeführers
Neben der Frage der Beweisverwertbarkeit und den verfassungsrechtlichen Aspekten spielt auch die kritische Betrachtung der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) und die Obliegenheiten eines Beschwerdeführers im Verfassungsbeschwerdeverfahren eine zentrale Rolle.
Kritik des BVerfG an der Rechtsprechung des BGH
In Rn. 77 ff. setzt sich das BVerfG kritisch mit der Entscheidung des BGH auseinander. Der BGH hatte die Verwertbarkeit der EncroChat-Daten ohne nähere Prüfung bestätigt und dabei argumentiert, dass keine wesentlichen rechtsstaatlichen Grundsätze verletzt wurden.
Das BVerfG äußert Zweifel daran, ob der BGH alle relevanten Fragen ausreichend geprüft hat, insbesondere:
- Reichweite des europäischen ordre public: Der BGH nahm an, dass keine Verletzung wesentlicher rechtsstaatlicher Grundsätze vorlag, ohne sich detailliert mit der konkreten Art und Weise der Beweiserhebung auseinanderzusetzen. Das BVerfG hinterfragt, ob diese Prüfung nicht hätte vertieft werden müssen, insbesondere im Hinblick auf mögliche Umgehungen von deutschen Verfahrensgarantien durch die Nutzung französischer Ermittlungsmaßnahmen.
- Verhältnis zwischen nationalem und europäischem Recht: Das BVerfG merkt an, dass der BGH auf eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) verzichtet hat, obwohl dies im Hinblick auf die Auslegung der Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA) geboten sein könnte. Besonders die Frage, ob das Sammeln von EncroChat-Daten durch eine solche Anordnung gedeckt ist, hätte vertieft geprüft werden können.
Der zentrale Punkt: Obliegenheiten des Beschwerdeführers
Trotz der Kritik am BGH stellt das BVerfG klar, dass die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen werden konnte. Der Grund: Der Beschwerdeführer hat es versäumt, seiner Obliegenheit nachzukommen, die Beschwerde bei wesentlichen Veränderungen der Sach- und Rechtslage zu aktualisieren (Rn. 81 ff.).
Rechtliche Grundlage für die Obliegenheit
Das BVerfG stützt sich auf seine ständige Rechtsprechung, wonach eine Verfassungsbeschwerde nur zulässig ist, wenn sie den Darlegungsanforderungen des § 23 Abs. 1 Satz 2 und § 92 BVerfGG entspricht. Dazu gehört:
- Schlüssige Darlegung des Sachverhalts
Der Beschwerdeführer muss den Sachverhalt vollständig und aktuell schildern, damit das Gericht den Fall ohne eigene Ermittlungen beurteilen kann. - Auseinandersetzung mit veränderten Umständen
Verändert sich die Sach- oder Rechtslage nach Einreichung der Beschwerde, ist der Beschwerdeführer verpflichtet, die neuen Umstände darzulegen und zu bewerten. Dies dient der Verfahrensökonomie und verhindert, dass das Gericht auf unvollständiger Grundlage entscheidet.
Versäumnisse des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer hatte es versäumt, neue Entwicklungen in einem parallel laufenden Verfahren beim EuGH (C-670/22) in seine Beschwerde einzubeziehen. Der EuGH hatte in diesem Verfahren festgestellt, dass bestimmte Aspekte der EEA einen individualschützenden Charakter haben könnten – ein Aspekt, der für die Bewertung der EncroChat-Daten von Bedeutung ist.
Das BVerfG betont, dass der Beschwerdeführer verpflichtet gewesen wäre, diese Entscheidung in seine Beschwerde einzubauen und zu bewerten, ob und wie sie seine Argumentation beeinflusst. Dieses Versäumnis führte dazu, dass die Verfassungsbeschwerde als unzulässig abgewiesen wurde.
Praktische Bedeutung: Konsequenzen für Beschwerdeführer
Die Entscheidung zeigt, dass die Anforderungen an die Darlegung einer Verfassungsbeschwerde hoch sind. Wer eine solche Beschwerde einreicht, muss:
- Den gesamten Sachverhalt lückenlos darlegen
Dazu gehört auch die Kenntnis und Darstellung paralleler Verfahren, die den Fall betreffen könnten. - Neue Entwicklungen einarbeiten
Werden während des Verfahrens neue rechtliche oder tatsächliche Erkenntnisse bekannt, müssen diese unverzüglich berücksichtigt werden. - Aktive Mitwirkung zeigen
Es reicht nicht, auf eine frühere Argumentation zu verweisen; vielmehr ist eine stetige Aktualisierung und Präzisierung der Beschwerde notwendig.
Ein Lehrstück für die Verteidigung
Die Entscheidung des BVerfG verdeutlicht nicht nur die hohen prozessualen Anforderungen an eine Verfassungsbeschwerde, sondern auch die Grenzen der Kritik an gerichtlichen Entscheidungen. Auch wenn das BVerfG die Entscheidung des BGH in Teilen kritisch sieht, wird klar: Wer seine eigenen prozessualen Obliegenheiten nicht erfüllt, verspielt die Chance, diese Kritik im Detail ausführen zu lassen. Diese einfache Grundregel besteht eben auch beim BVerfG.
Das bedeutet: Man hat dem BGH bereits einen Fehler attestiert, die relevante Frage wurde wegen eines Formfehler aber nicht abschliessend vertieft. Das Thema ist damit nicht „durch“, es kommt irgendwann Encrochat II. Ob man hier aber als BVerfG klug gehandelt hat, mit diesem formalen Herumreiten – wohl ohne vorherige Hinweise an den Beschwerdeführer – weiss ich nicht.
Fazit: Realistische Verteidigungsstrategien statt Illusionen
Die EncroChat-Fälle zeigen, dass es kein allgemeines Beweisverwertungsverbot für im Ausland erhobene digitale Beweise gibt. Erfolgreiche Verteidigung basiert nicht auf Illusionen über generelle Ausschlüsse von Beweisen, sondern auf einer klaren, sachlichen Analyse der individuellen Umstände. Aber der BGH hat nun im Stammbuch stehen, in Encrochat vorschnell die EU-Ebene ausgeklammert zu haben:
Zwar geht auch der EuGH davon aus, dass die Frage nach der Verwertbarkeit von Beweisen in einem nationalen Strafverfahren eine solche des nationalen Rechts ist (vgl. Urteil vom 30. April 2024, M.N. <EncroChat>, C-670/22, EU:C:2024:372, Rn. 128). Dies lässt aber nicht den vom Bundesgerichtshof gezogenen Schluss zu, klärungsbedürftige Fragen im Sinne von Art. 267 AEUV ergäben sich im Streitfall damit nicht.
Denn eine Frage des Unionsrechts kann auch dann klärungsbedürftig – weil entscheidungserheblich – sein, wenn sie als Vorfrage im Rahmen der Anwendung nationalen Rechts nur einen von mehreren zu berücksichtigenden Aspekten betrifft. Es kommt insoweit darauf an, ob die Beantwortung der potentiellen Vorlagefrage das Ergebnis der nach nationalem Recht zu treffenden Entscheidung beeinflussen kann. Besteht diese Möglichkeit, ist die unionsrechtliche Vorfrage entscheidungserheblich, sodass nach Art. 267 Abs. 3 AEUV eine Vorlagepflicht des letztinstanzlichen nationalen Gerichts an den EuGH besteht. Soweit der Bundesgerichtshof bei der Beurteilung der Verwertbarkeit der EncroChat-Protokolle also entscheidungserheblich auch darauf abgestellt hat, dass Erhebung und Übermittlung der Erkenntnisse nicht gegen den Beschwerdeführer schützende Vorgaben des Unionsrechts verstießen, wäre ungeachtet des Umstandes, dass es letztlich um die nach nationalem Recht zu beurteilende Verwertbarkeit der Erkenntnisse im deutschen Strafprozess ging, eine Vorlage in Betracht gekommen und gegebenenfalls auch geboten gewesen.
Strafverteidiger sollten ihre Mandanten auf die realistischen Erfolgsaussichten hinweisen. Pauschale Versprechen, die auf Verwertungsverbote setzen, führen oft in die Irre. Stattdessen können gut durchdachte Argumentationen und eine akkurate Herausarbeitung der Fakten viele Jahre Haft ersparen. Der BGH dagegen sollte endlich seine Hausaufgaben machen und seine Grundhaltung zu dem Thema überdenken, die inzwischen offenkundig allein darin begründet ist, sich vom EUGH nicht in die nationalen Verwertungsverbote hineinreden zu lassen – wobei der EUGH längst die Notwendigkeit von Verwertungsverboten sieht.
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