In einem aktuellen Beschluss vom 21. Februar 2024 hat der Bundesgerichtshof (BGH, 3 StR 373/23) eine Entscheidung in einem Strafverfahren gefällt, das wegen schweren sexuellen Übergriffs in Tateinheit mit Diebstahl mit Waffen und Körperverletzung geführt wurde.
Der Beschluss behandelt insbesondere die Frage der Verfahrensaussetzung und die Übersetzungsrechte eines nicht deutschsprachigen Angeklagten während der Hauptverhandlung.
Sachverhalt
Der Angeklagte, ein rumänischer Staatsbürger, der kein Deutsch versteht, wurde vom Landgericht Mainz wegen schweren sexuellen Übergriffs in Tateinheit mit Diebstahl mit Waffen und Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Anklageschrift wurde ihm zunächst nur in deutscher Sprache zugestellt. Zu Beginn der Hauptverhandlung wurde die Anklage verlesen und mündlich übersetzt. Der Angeklagte beantragte daraufhin die Aussetzung des Verfahrens, da er keine schriftliche Übersetzung der Anklageschrift erhalten hatte.
Entscheidung des Landgerichts
Das Landgericht unterbrach die Hauptverhandlung für neun Tage und übergab dem Angeklagten die schriftlich übersetzte Anklageschrift. Es lehnte jedoch eine vollständige Aussetzung des Verfahrens ab und begründete dies damit, dass die Unterbrechung ausreiche, um dem Angeklagten eine hinreichende Vorbereitung der Verteidigung zu ermöglichen. Der Angeklagte hatte sich bereits in Anwesenheit eines Dolmetschers zu den Tatvorwürfen eingelassen und die Anklageschrift mit seinem Verteidiger erörtert.
Rechtsmittel und Entscheidung des BGH
Der Angeklagte legte Revision ein und machte insbesondere geltend, dass sein Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. a und b EMRK sowie das Recht auf rechtzeitige Unterrichtung gemäß § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO verletzt worden seien. Der BGH verwarf die Revision jedoch einstimmig und bestätigte die Entscheidung des Landgerichts. Er argumentierte, dass die Unterbrechung der Hauptverhandlung und die nachträgliche Aushändigung der übersetzten Anklageschrift ausreichten, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.
Rechtliche Analyse
Der BGH stellte klar, dass nach § 265 Abs. 4 StPO das Gericht die Hauptverhandlung auszusetzen hat, wenn dies zur Vorbereitung der Verteidigung notwendig erscheint. Dies ist eine Ermessensentscheidung, die das Gericht anhand der Umstände des Einzelfalls treffen muss. Ein genereller Anspruch auf Aussetzung besteht nicht:
Wollte man § 265 Abs. 4 StPO eine strikte Aussetzungspflicht im Fall der verspäteten Anklageüberlassung entnehmen, ginge dies über die europarechtlichen Vorgaben hinaus. Die europäischen Rechtsnormen und die sie ausformende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die bei der Auslegung des nationalen Prozessrechts zu beachten sind (…) verlangen in diesen Fällen ebenfalls keine Aussetzung des Verfahrens.
Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK gibt lediglich vor, dass generell ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung bestehen muss, und besagt nichts darüber, in welcher Form das Gericht diese zu gewähren hat. Wird der Angeklagte über die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe nicht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihm verständlichen Sprache unterrichtet, ist dies nach europäischem Recht grundsätzlich heilbar. Denn ein Verstoß gegen eine einzelne Regel der Menschenrechtskonvention macht das Strafverfahren nicht ohne Weiteres zu einem unfairen. Für eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK kommt es darauf an, ob das Strafverfahren insgesamt fair war.
Dies muss in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung des gesamten Verfahrensablaufs und nicht auf der Grundlage einer isolierten Beurteilung eines besonderen Aspekts oder Geschehens geprüft werden. Hierbei sind die Mindestrechte nach Art. 6 Abs. 3 EMRK zu berücksichtigen; sie sind aber kein Selbstzweck. Ihr eigentliches Ziel ist die Fairness des Strafverfahrens insgesamt zu gewährleisten (…).
Verstöße können dadurch kompensiert werden, dass dem Angeklagten genommene Einflussmöglichkeiten in einem späteren Verfahrensstadium eingeräumt oder fehlerhafte
Verfahrensteile wiederholt werden, wenn dadurch insgesamt seine Rechtsstellung gewahrt wird und der Fehler sich damit im Ergebnis nicht auswirkt.Der fair-trial-Grundsatz aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ist nur verletzt, wenn im Verfahren in seiner Gesamtheit rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde. Um die Subjektstellung des Beschuldigten in einem rechtlich geordneten Strafprozess zu schützen, muss ihm insbesondere die Möglichkeit gegeben werden, aktiv auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (…)
Im vorliegenden Fall erkannte der BGH keine Ermessensfehler und betonte, dass die neun Tage Unterbrechung ausreichend waren, da der Angeklagte bereits vorher über die Anklage informiert war und sich zu den Vorwürfen geäußert hatte.
Auswirkungen und Fazit
Die Entscheidung des BGH verdeutlicht, dass eine verspätete Überlassung der übersetzten Anklageschrift nicht zwangsläufig zu einer Aussetzung des Verfahrens führen muss. Vielmehr ist es eine Frage des Einzelfalls, ob durch andere Maßnahmen, wie hier durch eine Verhandlungspause, die Rechte des Angeklagten gewahrt werden können. Dies betont die Bedeutung der prozessualen Fürsorgepflicht und der Gewährleistung eines fairen Verfahrens, ohne die Effizienz des Strafverfahrens unnötig zu beeinträchtigen:
Für die Möglichkeit der ordnungsgemäßen Verteidigung ist außerdem von Bedeutung, zu welchem Zeitpunkt der Angeklagte die Kenntnis von der (übersetzten) Anklage erhält. Wird ihm die Anklage oder deren Übersetzung – wie hier vor oder zu Beginn der Hauptverhandlung überlassen, kann er seine Verteidigung in der Regel noch auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe einstellen und als Subjekt des Verfahrens aktiv Einfluss auf dessen Gang und Ergebnis nehmen.
Wird der Angeklagte der Tatvorwürfe dagegen erst zu einem späten Stadium der Hauptverhandlung gewahr, in dem bereits ein wesentlicher Teil von ihr durchgeführt ist, kann es zur angemessenen Wahrung seiner Verteidigungsrechte geboten sein, mit der Hauptverhandlung von vorn zu beginnen. Das gilt insbesondere bei einer in Unkenntnis der Anklageschrift abgegebenen Einlassung (…)
Je größer der Umfang der vor der Unterrichtung stattgefundenen Hauptverhandlung und je komplexer Tatvorwurf und Beweislage, desto näher liegt die Aussetzung. Je einfacher der Verfahrensstoff und je früher die Unterrichtung, desto eher genügt eine Unterbrechung des Verfahrens.
Der Beschluss zeigt, dass deutsche Gerichte bemüht sind, die Rechte nicht deutschsprachiger Angeklagter zu schützen und gleichzeitig den Verfahrensfluss aufrechtzuerhalten. Die Entscheidung hat daher wichtige Implikationen für die Praxis der Strafverteidigung und die Rechte von Angeklagten in vergleichbaren Situationen.
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