Zulässiges Entsperren eines Smartphones durch erzwungendes Fingerauflegen

Eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Bremen (1 ORs 26/24) zur zwangsweisen Entsperrung eines Smartphones durch Auflegen des Fingers des Beschuldigten auf den Fingerabdrucksensor wird – nicht nur in juristischen Kreisen – für Aufsehen sorgen: Es zeichnet sich zunehmend ab, dass (wenig überraschend) deutsche Gerichte keine Probleme mit der zwangsweisen Entsperrung durch Polizisten mittels Fingerauflegen haben. Betroffene müssen Konsequenzen ziehen.

Kurz: Das OLG Bremen stellte klar, dass die zwangsweise Entsperrung eines Smartphones durch das Auflegen des Fingers des Beschuldigten auf den Fingerabdrucksensor nach § 81b Abs. 1 rechtlich zulässig ist. Es argumentierte, dass die Norm nicht nur die Erhebung, sondern auch die unmittelbare Nutzung biometrischer Merkmale umfasse. Ergänzend führte es aus, dass die Annexkompetenz auch die Anwendung unmittelbaren Zwangs rechtfertige, solange die Maßnahme verhältnismäßig ist und einem legitimen Ziel dient

Sachverhalt

Im konkreten Fall wurde die Wohnung des Beschuldigten im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens durchsucht. Gegenstand der Ermittlungen war der Verdacht auf Verbreitung kinderpornografischer Schriften. Während der wurde ein klingelndes Smartphone entdeckt, dessen Zugang durch einen Fingerabdruck gesichert war. Auf Aufforderung, das Gerät zu entsperren, verweigerte der Beschuldigte die Mitwirkung. Daraufhin entschied sich die Polizei, den Finger des Beschuldigten unter Anwendung unmittelbaren Zwangs auf den Sensor zu legen, was zur Entsperrung des Geräts führte.

Rechtliche Würdigung

Zulässigkeit nach § 81b Abs. 1 StPO

Das OLG Bremen stützt die zwangsweise Entsperrung auf § 81b Abs. 1 StPO. Diese Vorschrift erlaubt die Erhebung und Verwendung biometrischer Merkmale eines Beschuldigten zur Strafverfolgung. Das Gericht argumentierte, dass das Fingerauflegen zur Entsperrung des Smartphones eine zulässige Anwendung dieser Norm darstellt. Interessant ist hierbei die Auslegung von § 81b StPO als Grundlage nicht nur für die Erhebung, sondern auch für die unmittelbare Nutzung biometrischer Daten zur Beweissicherung.

Wenn rechtliche Laien diesen Paragrafen lesen, werden sie nicht verstehen, wie man das hier anwenden kann – tatsächlich aber ist diese Auslegung schon lange in der Diskussion und nur ein weiteres Zeugnis der Kreativität deutscher Strafgerichte im Auslegen von strafprozessualen Normen auf dem Weg zu Verurteilungen. Grundlage ist die unsägliche moderne Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, mit welcher der Wortlaut eines Gesetzes keine natürliche Grenze der Auslegung mehr sein muss.

Annexkompetenz und unmittelbarer Zwang

Das Gericht erweiterte die Anwendung der Norm um den Aspekt des unmittelbaren Zwangs, der in der Strafprozessordnung grundsätzlich geregelt ist. Die sogenannte Annexkompetenz, die eine Erweiterung der eigentlichen Befugnisse erlaubt, wurde auf die Entsperrung eines Smartphones übertragen. Diese Auslegung verdeutlicht die steigende Bedeutung digitaler Beweismittel und die damit verbundenen rechtlichen Herausforderungen.

Abgrenzung zu §§ 94 und 110 StPO

Eine entscheidende Frage betrifft die rechtliche Grundlage für den Zugriff auf die im Smartphone gespeicherten Daten. Das OLG Bremen betont, dass hierfür nicht § 81b Abs. 1 StPO, sondern die Vorschriften zur Durchsuchung und (§§ 94, 110 StPO) maßgeblich sind. Diese klare Trennung der Rechtsgrundlagen unterstreicht die Bedeutung der Verhältnismäßigkeit und die Notwendigkeit einer gerichtlichen Anordnung für den Datenzugriff.

Die bisherigen Entscheidungen übersehen, dass Betroffene hier faktisch zum Beweismittel gegen sich selbst gemacht werden

Rechtsanwalt Jens Ferner

Grundrechtliche Implikationen

Die Maßnahme berührt das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) sowie das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Das Gericht hielt die Maßnahme jedoch für verhältnismäßig, da der Eingriff durch ein übergeordnetes öffentliches Interesse – die effektive Strafverfolgung – gerechtfertigt sei.

Die sorgfältige Abwägung zwischen den Grundrechten des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse zeigt, wie sensibel die Gerichte mit diesen Fragestellungen umgehen müssen. Stattdessen werden Betroffene gezwungen, an Ihrer eigenen Untersuchung und ggf. Überführung mitzuwirken, was im Gegensatz zu unserem Fundamentalprinzip steht, dass niemand Beweismittel gegen sich selbst sein muss.


Zwischen Fortschritt und Rechtsunsicherheit

Das Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Bremen vom 08.01.2025 (1 ORs 26/24) zur zwangsweisen Entsperrung eines Smartphones durch Fingerauflegen reiht sich in eine kontroverse Debatte ein. Bereits die frühere Entscheidung des Landgerichts Ravensburg behandelte ähnliche Fragen und führte zu intensiven Diskussionen über Strafprozessrecht und Grundrechte.

Das LG Ravensburg kam zu einem ähnlichen Ergebnis und hielt die Maßnahme für eine „ähnliche Maßnahme“ im Sinne von § 81b Abs. 1 StPO. Ich habe schon früh angesprochen, dass der historische Gesetzgeber die Nutzung biometrischer Daten nicht explizit für derartige Zwecke vorgesehen hat. Die Ausweitung auf die Smartphone-Entsperrung stellt nach meiner Ansicht eine problematische Auslegung dar, die in ihrer systematischen wie faktischen Wirkung unzureichend diskutiert wird.

Kritikpunkte und Problemfelder

Grundrechtliche Bedenken

Beide Entscheidungen berühren das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Während die Gerichte die Eingriffe als verhältnismäßig bewerten, bleibt fraglich, ob die Abwägung zwischen Strafverfolgungsinteressen und dem Schutz persönlicher Daten ausreichend differenziert wurde. Kritisch ist hervorzuheben, dass die Erhebung biometrischer Daten nicht nur eine kurzzeitige Maßnahme ist, sondern tief in die Privatsphäre eingreift.

Fehlende gesetzliche Konkretisierung

Ich argumentierte schon in meinem Kommentar zur Ravensburger Entscheidung, dass der Gesetzgeber bewusst darauf verzichtete, die zwangsweise Nutzung biometrischer Daten konkret zu regeln. Ein Entwurf des IT-Sicherheitsgesetzes 2.0 sah in § 163g StPO eine detaillierte Normierung der Zugriffsmöglichkeiten vor, die jedoch nicht umgesetzt wurde. Diese Gesetzeslücke führt zu einer rechtlichen Unsicherheit und einer ergebnisorientierten Rechtsprechung.

Folgeprobleme: „Zufallsfunde“ und digitale Ausweitung

Ein entscheidender Kritikpunkt betrifft die Möglichkeit sogenannter Zufallsfunde. Wird ein Smartphone entsperrt, können Ermittler auf sämtliche darauf gespeicherten Daten zugreifen, was weit über den ursprünglichen Ermittlungszweck hinausgeht. Ich kann nur vor einer zunehmenden Überwachung und dem Risiko warnen, dass Smartphones zu „digitalen Spiegeln unseres Lebens für Ermittler“ werden. Besonders knifflig ist es, wenn man daran denkt, dass die gleichen biometrischen Merkmale bei den meisten den Zugriff auf den Passwortmanager eröffnen – alle Accounts stehen damit Ermittlern zur Verfügung!

Widerstand ante Portas

Die bisherigen Entscheidungen übersehen, dass Betroffene hier faktisch zum Beweismittel gegen sich selbst gemacht werden: Wer nicht mitwirkt begeht die nächste Straftat (). Dadurch entsteht ein faktischer Zwang mitzuwirken, der aber konträr zu unserem Rechtsgrundsatz steht, nicht zum Beweismittel gegen sich selbst werden zu dürfen. Das wird hier eiskalt und sehenden Auges ausgehebelt.

Fazit

Die Entscheidung des OLG Bremen verdeutlicht, wie Strafverfolgungsbehörden und Gerichte mit der Nutzung moderner Technologien umgehen. Sie stärkt die Befugnisse der Ermittler, setzt aber zugleich klare Grenzen durch die differenzierte Anwendung von Strafprozessvorschriften. Diese Entwicklung ist richtungsweisend für die Balance zwischen Sicherheit und Freiheitsrechten im digitalen Zeitalter. Der Beschluss liefert eine prägnante Grundlage für zukünftige Diskussionen zur Integration biometrischer Daten in die Strafprozessordnung.

Zulässiges Entsperren eines Smartphones durch erzwungendes Fingerauflegen - Rechtsanwalt Ferner

Es kann nur einen Rat geben: Sorgen Sie vor, auch wenn Sie denken, nichts zu verbergen zu haben. Entweder Sie löschen (wie ich) ein Mal die Woche Ihr Smartphone komplett; oder Sie verzichten auf biometrische Merkmale zur Entsperrung. Ansonsten haben Sie ein Problem wenn Ermittler kommen … und denken Sie daran, dass die meisten Menschen, die in meinem Büro vor mir sitzen, sagen „Ich hätte nie gedacht, dass mir das passiert“. Genau davon leben ja Ermittlungen.

Die Quintessenz dieser Entscheidung zeigt, wie bedeutend eine präzise gesetzliche Grundlage und die Wahrung der Grundrechte in einem zunehmend digitalisierten Ermittlungsumfeld wären – und wie weit sich der deutsche Strafprozess von einer gewissen Berechenbarkeit anhand des Gesetzes entfernt hat.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Ich bin zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht und zur EU-Staatsanwaltschaft. Ich bin Softwareentwickler, in Python zertifiziert und habe IT-Handbücher geschrieben.

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