Bundesgerichtshof zur Begründungspflicht bei Freisprüchen in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen

Wenn der Freispruch strenger geprüft wird: Freisprüche genießen zu Recht einen hohen Stellenwert im Strafverfahren: Sie schützen die Unschuldvermutung, begrenzen staatliche Macht und geben der richterlichen Skepsis gegenüber lückenhafter Beweislage institutionellen Ausdruck. Und doch ist der Freispruch nicht die einfache Lösung, für die er zuweilen gehalten wird. Im Gegenteil: In Fällen, in denen Aussage gegen Aussage steht, erfordert ein Freispruch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine besonders stringente und nachvollziehbare Begründung. Dass dies keine bloße Förmelei ist, sondern eine substanzielle rechtliche Anforderung, zeigt der Beschluss des 1. Strafsenats vom 19. Februar 2025 (Az. 1 StR 193/24) in eindrucksvoller Deutlichkeit.

Das Urteil hebt nicht nur die Entscheidung des Landgerichts Tübingen auf, sondern beleuchtet zugleich ein strukturelles Dilemma: In jenen Fällen, die faktisch wie rechtlich auf des Messers Schneide stehen, wird ein Freispruch – anders als gemeinhin vermutet – zur besonders anspruchsvollen Herausforderung für die Tatgerichte.

Der Fall: Aussage gegen Aussage – und die Anforderungen an die Begründung

Dem Angeklagten wurde zur Last gelegt, zwischen 2017 und 2020 die Tochter seiner Lebensgefährtin in zahlreichen Fällen schwer sexuell missbraucht zu haben. Die Hauptbelastung lag in den Angaben der Nebenklägerin, der das Landgericht jedoch nicht ausreichend Glauben schenkte, um eine Verurteilung zu begründen. Es sprach den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen frei. Die Revision der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin hatte Erfolg – weil die schriftlichen Urteilsgründe nicht den Anforderungen genügten, die an einen solchen Freispruch zu stellen sind.

Der BGH bekräftigt, dass das Tatgericht in Fällen wie diesem zunächst eine geschlossene Darstellung derjenigen Tatsachen bieten muss, die es als erwiesen ansieht. Auf dieser Grundlage ist sodann in nachvollziehbarer Weise zu erläutern, weshalb die für eine Verurteilung notwendigen zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden konnten. Insbesondere wenn – wie hier – sämtliche Feststellungen zum Kerngeschehen auf einer einzigen Aussage beruhen, sind die Darstellungsanforderungen an die Würdigung der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage und der Glaubwürdigkeit der Zeugin besonders hoch.

Das Urteil des Landgerichts Tübingen genügte diesen Anforderungen nicht: Es blieb in seinen Feststellungen fragmentarisch, vernachlässigte zentrale Angaben zur Beziehung zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin, ließ wichtige persönliche Daten des Angeklagten völlig außen vor und versäumte es, die wesentlichen Teile der Zeugenaussagen strukturiert und zusammenhängend wiederzugeben. Zwar verwies das Landgericht auf Widersprüche und Strukturbrüche in den Aussagen – doch diese wurden nur punktuell, ohne ausreichende Kontextualisierung, dargestellt. Eine revisionsrechtlich überprüfbare Gesamtwürdigung war auf dieser Grundlage nicht möglich.

Freispruch als Gratwanderung: Das strukturelle Risiko in schwierigen Fällen

Gerade dieses Urteil führt exemplarisch vor Augen, warum der Freispruch in Verfahren mit schwieriger Beweislage kein „sicherer Weg“ für Gerichte ist. Wer sich für einen Freispruch entscheidet, muss überzeugend darlegen, warum der Zweifel überwiegt – und das im Angesicht oft erheblicher Belastungsmomente. Diese Darlegungspflicht ist Ausdruck rechtsstaatlicher Sorgfalt, aber zugleich auch eine verfahrensrechtliche Hürde: Denn sie verlangt vom Gericht, sich mit allen Einzelheiten der Aussage, ihrer Genese, ihrer Belastbarkeit und ihrer inneren Struktur auseinanderzusetzen – und dies in einer Weise, die auch der revisionsgerichtlichen Kontrolle standhält.

Dies bedeutet: Je schwieriger ein Verfahren in der Sache ist – je dünner die Beweislage, je komplexer die Aussagepsychologie, je sensibler das Tatvorfeld –, desto höher liegt die Schwelle für einen tragfähigen Freispruch. Das ist keine juristische Ungerechtigkeit, sondern Konsequenz des rechtsstaatlichen Gleichgewichts zwischen Strafanspruch und Unschuldsvermutung. Zugleich bedeutet es, dass Gerichte in „grenzwertigen Fällen“ ein erhebliches Risiko eingehen, wenn sie sich für den Freispruch entscheiden – denn er kann, wie hier, durch das Revisionsgericht kassiert werden, wenn seine Begründung nicht tragfähig ist.

Ergebnis

In der Schlussbetrachtung zeigt der Beschluss des Bundesgerichtshofs, dass der Freispruch in -Konstellationen ein anspruchsvolles rechtliches Unterfangen ist, das hohe Anforderungen an Begründung, Transparenz und Sorgfalt stellt. Der Mythos vom „bequemen Freispruch“ erweist sich als Illusion. Vielmehr verlangt der rechtsstaatlich tragfähige Freispruch im Zweifel eine größere argumentative Dichte als manche Verurteilung.

Die Entscheidung ist damit nicht nur ein Beitrag zur Dogmatik der Beweiswürdigung, sondern auch ein realistischer Hinweis auf die institutionelle Verantwortung des Tatgerichts – gerade dann, wenn es sich im Dickicht widersprüchlicher Aussagen für den Zweifel entscheidet. Wer diesen Weg beschreitet, muss ihn mit Klarheit und methodischer Strenge gehen – oder riskiert die revisionsrechtliche Rückverweisung.

Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht bei Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf
Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht mit Schwerpunkt Cybersecurity & Softwarerecht. Ich bin zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht und zur EU-Staatsanwaltschaft.Als Softwareentwickler bin ich in Python zertifiziert und habe IT-Handbücher geschrieben.

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