Vergewaltigung im Schlaf: Konkretisierung und rechtliche Würdigung von Serienstraftaten im Sexualstrafrecht

Mit Urteil vom 15. Januar 2025 (Az. 2 StR 298/24) hat der ein Urteil des Landgerichts Marburg aufgehoben, das den Angeklagten in mehreren Anklagepunkten vom Vorwurf der sexuellen Übergriffe freigesprochen hatte.

Die Entscheidung beleuchtet mit großer Klarheit zwei zentrale Fragen des Sexualstrafrechts: Einerseits, wie Tatbestände bei sexuellen Handlungen an schlafenden Personen rechtlich zu würdigen sind; andererseits, welche Anforderungen an die Konkretisierung gleichförmiger Serienstraftaten zu stellen sind. Beides wird in der Praxis regelmäßig relevant, etwa bei Vorwürfen, die sich auf wiederkehrende Übergriffe in Beziehungskontexten beziehen – häufig mit eingeschränkter oder fragmentarischer Aussagebasis auf Seiten der Betroffenen.

Der Fall: Teilfreispruch trotz geglaubter Aussage

Das Landgericht Marburg hatte den Angeklagten in zwei Fällen wegen sexueller Übergriffe in Tatmehrheit mit zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, ihn jedoch vom Vorwurf weiterer zehn Übergriffe freigesprochen. Die Nebenklägerin hatte angegeben, der Angeklagte habe ihr über Monate hinweg mehrfach während ihres Schlafes sexuelle Handlungen an ihr vorgenommen, etwa das Einführen eines Fingers in die Vagina. Die Kammer schenkte dieser Schilderung zwar grundsätzlich Glauben, meinte aber, die Voraussetzungen für eine Verurteilung nicht als erfüllt ansehen zu können – insbesondere, weil keine hinreichende Individualisierung der Taten möglich gewesen sei und die Frage, ob die Betroffene jeweils ausdrücklich ihren entgegenstehenden Willen geäußert habe, offenblieb.

Die Revision der Staatsanwaltschaft richtete sich ausschließlich gegen den Teilfreispruch – und hatte Erfolg.

Der rechtliche Maßstab: § 177 StGB und der Schutz des schlafenden Menschen

Der Bundesgerichtshof beanstandet, dass das Landgericht eine Verurteilung nach § 177 Abs. 1 StGB von der Feststellung eines ausdrücklich geäußerten entgegenstehenden Willens abhängig gemacht hat. Dabei hat die Strafkammer übersehen, dass § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB in Verbindung mit Abs. 6 S. 2 Nr. 1 eine eigenständige Tatbestandsvariante enthält, die gerade für Konstellationen wie die vorliegende geschaffen wurde: Danach ist auch derjenige strafbar, der eine sexuelle Handlung an einer Person vornimmt, die nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern – etwa, weil sie schläft. Dass der Schlaf eine solche Willensunfähigkeit begründet, ist seit langem gefestigte Rechtsprechung. Eine Verurteilung hätte daher allein auf der Grundlage der glaubhaften Aussage der Nebenklägerin erfolgen können, ohne dass diese einen aktiv artikulierten Widerspruch für jede einzelne Tat hätte schildern müssen.

Die Entscheidung stellt somit klar: Wer eine schlafende Person sexuell missbraucht, erfüllt den Straftatbestand unabhängig davon, ob das Opfer ausdrücklich „nein“ sagt – denn im Schlaf fehlt gerade die Fähigkeit, zu widersprechen. Eine rechtfertigende Einwilligung wäre allenfalls dann denkbar, wenn diese ausdrücklich im Voraus erteilt worden wäre. Dafür ergaben sich im konkreten Fall keinerlei Anhaltspunkte.

Zur Konkretisierung von Serienstraftaten: Zwischen Beweismaß und Lebenswirklichkeit

Ein weiteres zentrales Thema der Entscheidung ist die Frage, welche Anforderungen an die Konkretisierung gleichförmiger Taten zu stellen sind. Das Landgericht hatte den Freispruch unter anderem darauf gestützt, dass die Nebenklägerin keine konkreten Daten oder äußeren Umstände der jeweiligen Taten benennen konnte und ihre Angaben zur Häufigkeit variierten. Der Bundesgerichtshof hält dem entgegen, dass solche Anforderungen die Lebenswirklichkeit und die Eigenarten sexueller Gewalt im sozialen Nahraum verkennen. Gerade bei nächtlichen Übergriffen, die sich über Monate hinweg in gleichförmiger Weise und in einer Beziehungskonstellation ereignen, ist eine minutiöse Tatzeitbestimmung regelmäßig unmöglich. Maßgeblich sei daher nicht die Exaktheit der Beschreibung jeder einzelnen Tat, sondern ob das Gericht sich von einer bestimmten Mindestzahl an Übergriffen in einem definierten Zeitraum mit tragfähiger Begründung überzeugen konnte.

Die bloße Tatsache, dass die Nebenklägerin keine lückenlose Erinnerung an alle Vorfälle hatte oder keine externe Anknüpfungspunkte wie Kalenderdaten nennen konnte, steht der Verurteilung daher nicht zwingend entgegen. Entscheidend sei, ob die Strafkammer ihrer Überzeugungsbildung im Sinne von § 261 auch bei summarisch beschriebenen Taten einen nachvollziehbaren Anker geben kann – etwa durch Schilderung der Lebensumstände, räumlicher Nähe, gleichbleibender Abläufe oder einer plausiblen Darstellung der Gesamtentwicklung.

Konsequenzen für das weitere Verfahren

Mit seiner Entscheidung hebt der BGH nicht nur den Teilfreispruch auf, sondern auch sämtliche dazugehörigen Feststellungen. Das bedeutet: In der neuen vor einer anderen Strafkammer wird das Verfahren in vollem Umfang neu aufgerollt werden müssen. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung, wonach ein bestreitender Angeklagter nicht an Feststellungen gebunden werden kann, die im Rahmen eines freisprechenden Urteils getroffen wurden – selbst dann, wenn sie für sich genommen nachvollziehbar und plausibel erscheinen.


Fazit

In der Kernaussage verdeutlicht das Urteil des Bundesgerichtshofs, dass der Schutz schlafender Personen vor sexuellen Übergriffen rechtlich nicht vom artikulierten Widerspruch abhängt. Der Schlaf begründet per se eine Unfähigkeit zur Willensbildung – und damit die Strafbarkeit nach § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB. Wer über Monate hinweg immer wieder die gleiche Verletzung dieses Schutzbereichs vornimmt, kann auch bei fragmentarischer Erinnerung und gleichförmigem Ablauf verurteilt werden – sofern das Gericht sich von einer Mindestzahl an Taten überzeugt.

Die Entscheidung rückt das Gewicht sexueller Selbstbestimmung auch im Zustand der Bewusstlosigkeit ins Zentrum – und stärkt damit den Schutz vor Übergriffen im sozialen Nahraum, in dem klassische Beweisstrukturen häufig versagen. Zugleich mahnt sie an, dass richterliche Zurückhaltung nicht in Beweisverweigerung umschlagen darf. Der „objektive Blick“ auf die Beweislage muss mit der Realität sexueller Gewalt in Einklang gebracht werden – ohne die Grundsätze des fairen Verfahrens zu verletzen. Der BGH findet hier eine ausgewogene Sprache – und setzt ein wichtiges Signal für die Würdigung von Aussagen in Serientatkonstellationen.

Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht bei Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf
Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht mit Schwerpunkt Cybersecurity & Softwarerecht. Ich bin zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht und zur EU-Staatsanwaltschaft.Als Softwareentwickler bin ich in Python zertifiziert und habe IT-Handbücher geschrieben.

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