Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 28. August 2025 (4 StR 476/24) eine grundsätzliche Frage des Straßenverkehrsstrafrechts entschieden: Kann ein Fahrer, der durch rücksichtsloses Fahren einen tödlichen Unfall verursacht und anschließend keine Hilfe leistet, sich nicht nur wegen fahrlässiger Tötung, sondern auch wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen strafbar machen?
Provokation, Kollision und unterlassene Rettung
Der Angeklagte fuhr auf der Autobahn 33, als er sich mit einem anderen Fahrzeug in ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel einließ. Er überholte den Pkw des Zeugen G., bremste ihn abrupt ab, setzte sich wieder vor ihn und vollführte schließlich einen ruckartigen Rechtsschlenker, der zu einer Kollision führte. Der andere Wagen prallte gegen die Leitplanke, überschlug sich mehrfach und riss einen Baum um. Der Beifahrer starb, der Fahrer erlitt schwere Verletzungen.
Der Angeklagte hielt zwar an, ging etwa 50 Meter zurück, unternahm aber keine Rettungsmaßnahmen. Stattdessen telefonierte er mit seinem Vorgesetzten, behauptete, der andere Fahrer sei weitergefahren, und setzte seine Fahrt fort. Später schrieb er eine WhatsApp-Nachricht, in der er betonte, er selbst hätte „tot sein können“. Das Landgericht Osnabrück verurteilte ihn wegen fahrlässiger Tötung und unerlaubten Entfernens vom Unfallort. Die Staatsanwaltschaft sah jedoch ein vorsätzliches Tötungsdelikt als möglich an und legte Revision ein.
Wann wird aus Unterlassen ein Tötungsversuch?
Das Landgericht hatte einen Tötungsvorsatz während des Fahrmanövers zu Recht verneint. Der Angeklagte hatte zwar aggressiv gehandelt, aber nicht bewusst eine tödliche Kollision herbeiführen wollen. Doch der BGH beanstandete, dass das Gericht nicht geprüft hatte, ob der Angeklagte nach dem Unfall einen bedingten Tötungsvorsatz entwickelte.
Denn wer als Garant – hier aufgrund seines vorangegangenen pflichtwidrigen Verhaltens (Ingerenz) – eine Rettung unterlässt, kann sich wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen strafbar machen, wenn er ernsthaft mit dem Tod der Unfallopfer rechnet und diesen billigend in Kauf nimmt. Das Landgericht hatte zwar festgestellt, dass der Angeklagte den Zusammenstoß bemerkte und wusste, dass das andere Fahrzeug schwer beschädigt war. Es hatte aber nicht erörtert, welche Vorstellungen er über das Schicksal der Insassen hatte, als er keine Hilfe leistete.

Aggressives Fahren kann strafrechtlich weitreichende Folgen haben
Die Entscheidung unterstreicht, dass rücksichtsloses Fahrverhalten nicht nur im Moment der Tat, sondern auch im Nachhinein strafrechtliche Risiken birgt. Wer durch sein Verhalten einen Unfall verursacht, wird zum Garanten für die Rettung der Opfer. Unterlässt er Hilfeleistungen, obwohl er mit schweren Folgen rechnet, kann daraus ein vorsätzlicher Tötungsversuch werden – selbst wenn der ursprüngliche Unfall nur fahrlässig herbeigeführt wurde.
Das Urteil wurde daher insoweit aufgehoben, und das Landgericht muss nun prüfen, ob der Angeklagte nach der Kollision einen bedingten Tötungsvorsatz hatte. Sollte dies der Fall sein, droht ihm eine deutlich höhere Strafe. Der Fall ist ein Warnsignal für alle Verkehrsteilnehmer: Wer durch riskantes Fahren einen Unfall verursacht, muss alles tun, um Schlimmeres zu verhindern – sonst riskiert er nicht nur eine Verurteilung wegen Fahrlässigkeit, sondern wegen vorsätzlicher Straftaten.
Garantenpflicht und hypothetische Kausalität
Der BGH betonte, dass bei Unterlassungsdelikten nicht nur die Garantenstellung, sondern auch die subjektive Vorstellung des Täters entscheidend ist. Hätte der Angeklagte für möglich gehalten, dass die Insassen des anderen Fahrzeugs verletzt oder sogar sterbend im Wrack lagen, und hätte er erkannt, dass ein Notruf oder Rettungsversuche ihr Überleben sichern könnten, wäre ein Tötungsversuch durch Unterlassen denkbar gewesen. Dass er selbst keine sichere Kenntnis von den Folgen hatte, schließt dies nicht aus – es genügt, wenn er den Tod für möglich hielt und gleichwohl untätig blieb.
Dass er 50 Meter zurückging, spricht nicht automatisch gegen einen Vorsatz. Vielmehr hätte das Gericht klären müssen, warum er trotz des offensichtlichen Unfallschadens keine weiteren Schritte unternahm. Seine spätere Aussage, er selbst hätte „tot sein können“, deutet sogar darauf hin, dass er die Lebensgefahr für alle Beteiligten durchaus erkannte.
- VG Berlin zur Zulässigkeit des Filmens von Polizeieinsätzen - 14. November 2025
- BayObLG zur Rechtmäßigkeit polizeilicher Maßnahmen gegen Aktivisten - 14. November 2025
- IOCTA Cyberkriminalität 2025 - 14. November 2025
