Das Wirtschaftsstrafrecht stellt einen essenziellen Bestandteil des Schutzes sozialer und wirtschaftlicher Ordnung dar. Besonders die Ahndung von Verstößen gegen sozialversicherungsrechtliche Pflichten ist von erheblicher Bedeutung, da diese Delikte nicht nur die betroffenen Arbeitnehmer benachteiligen, sondern auch das Sozialsystem als Ganzes gefährden.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit seinem Beschluss vom 18. November 2024 (Az. 5 StR 375/24) die Anforderungen an die Beweisführung und Berechnung vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge präzisiert. Im Folgenden beleuchte ich die Hintergründe und rechtlichen Aspekte dieses Urteils sowie dessen Bedeutung für die Praxis.
Sachverhalt
Der Angeklagte war faktischer Geschäftsführer eines Lohnleistungsunternehmens, das im Zeitraum von 2015 bis 2019 überwiegend in der Baubranche tätig war. Nach den Feststellungen des Landgerichts Berlin beschäftigte er zahlreiche Arbeitnehmer in Vollzeit, die entweder gar nicht oder nur teilweise zur Sozialversicherung angemeldet waren. Die Löhne wurden teilweise „schwarz“ ausgezahlt, wobei weder die Arbeitgeber- noch die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung ordnungsgemäß abgeführt wurden. Der Gesamtschaden belief sich laut Urteil auf rund 878.000 Euro.
Das Landgericht Berlin verurteilte den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 49 Fällen (§ 266a StGB) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten. Die Revision des Angeklagten führte vor dem BGH zur teilweisen Aufhebung des Strafausspruchs und einer Zurückverweisung.
Rechtliche Bewertung durch den BGH
Der BGH hat den Schuldspruch bestätigt, die Berechnung des Schadens und die darauf aufbauende Strafzumessung jedoch als rechtsfehlerhaft beanstandet. Die Entscheidung enthält wegweisende Klarstellungen zu den Anforderungen an die Feststellung und Berechnung vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge.
Schadensberechnung und Nachvollziehbarkeit
Der BGH betonte, dass die Berechnung der vorenthaltenen Beiträge präzise und revisionsrechtlich überprüfbar sein muss. Dies erfordert, dass die Berechnungsgrundlagen – wie Lohnsummen, Beitragssätze und Beschäftigungszeiten – im Urteil konkret dargelegt werden. Das Landgericht hatte die Höhe der vorenthaltenen Beiträge teilweise geschätzt, jedoch nicht ausreichend erläutert, welche Beitragssätze und Grundlagen dabei berücksichtigt wurden. Insbesondere die Fälle, in denen eine einzelfallbezogene Berechnung möglich war, wurden unzureichend dokumentiert. Der BGH hob hervor, dass auch bei Schätzungen die Berechnungsbasis umfassend dargestellt werden muss, um eine sachgerechte Überprüfung zu ermöglichen.
Verwendung der Zwei-Drittel-Methode
In der Baubranche wird aufgrund der häufig unzureichenden Dokumentation von Arbeitszeiten und Entgelten häufig die sogenannte Zwei-Drittel-Methode angewendet. Dabei wird angenommen, dass zwei Drittel des gezahlten Arbeitslohns auf Nettoschwarzlöhne entfallen. Der BGH bestätigte, dass diese Methode grundsätzlich zulässig ist, sofern keine detaillierteren Unterlagen vorliegen. Allerdings monierte er, dass das Landgericht die konkreten Beitragssätze nicht benannt und somit die Grundlage für die Berechnung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile nicht hinreichend dargelegt hatte.
Relevanz der Beitragssätze
Eine zentrale Rolle spielt die exakte Feststellung der Beitragssätze der zuständigen Krankenkassen und anderen Sozialversicherungsträger. Der BGH stellte klar, dass die Urteilsgründe die Beitragssätze konkret benennen müssen, um die Berechnungen nachvollziehbar zu machen. Das Fehlen dieser Angaben mache die Höhe des Schadens und damit den Schuldumfang revisionsrechtlich nicht überprüfbar.
Fehlende Feststellungen bei Einzelfallberechnung
In zwei Fällen (November und Dezember 2015) war es dem Landgericht möglich, eine einzelfallbezogene Berechnung auf Grundlage vorhandener Arbeitszeitaufzeichnungen vorzunehmen. Dennoch fehlten im Urteil Angaben zu den ermittelten Arbeitsstunden und Löhnen, die diesen Berechnungen zugrunde lagen. Der BGH rügte, dass auch hier die Nachvollziehbarkeit nicht gewährleistet sei.
Auswirkungen auf die Strafzumessung
Der BGH hob den Strafausspruch auf, da nicht auszuschließen sei, dass das Landgericht von einem zu hohen Schaden und damit einem überhöhten Schuldumfang ausgegangen war. Er betonte, dass die Höhe des Schadens ein wesentlicher Faktor für die Strafzumessung ist und unzureichende Feststellungen zu einem unrechtmäßigen Strafmaß führen können.
Die Entscheidung des BGH unterstreicht die hohen Anforderungen an die Beweisführung und Dokumentation in Wirtschaftsstrafverfahren, insbesondere im Bereich des § 266a StGB. Für die Praxis bedeutet dies, dass Ermittlungsbehörden und Gerichte eine besonders sorgfältige Aufbereitung der Daten sicherstellen müssen. Unternehmen in der Baubranche und anderen lohnintensiven Sektoren sollten sich bewusst sein, dass unzureichende Dokumentation nicht nur rechtliche Risiken birgt, sondern auch die Strafzumessung in Wirtschaftsstrafverfahren erheblich beeinflussen kann.
Fazit
Das Urteil des BGH ist ein klares Signal für eine präzisere Handhabung von Wirtschaftsstraftaten, insbesondere bei der Berechnung und Darlegung vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge. Es zeigt, dass pauschale Schätzungen nur in Ausnahmefällen zulässig sind und stets detaillierte Feststellungen erforderlich sind, um die Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten. Die Entscheidung stärkt die Rechtsstaatlichkeit im Wirtschaftsstrafrecht und setzt zugleich hohe Maßstäbe für die Praxis.
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