Das OLG Celle (2 Ws 135/23) hebt hervor, dass dann, wenn für einen Beschuldigten ein Betreuer mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt ist, in der Regel zugleich die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vorliegen.
Bei der Frage, ob die „Schwere der Tat“ die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordere, seien neben der Straferwartung auch andere schwerwiegende Nachteile, wie etwa die drohende Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB, zu berücksichtigen. Und: Ein vom Angeklagten in der Hauptverhandlung abgegebener Rechtsmittelverzicht ist unwirksam, wenn der Angeklagte entgegen § 140 StPO nicht ordnungsgemäß verteidigt worden ist.
Das Landgericht hatte weiter ausgeführt, ein Fall des § 140 Abs. 2 StPO liege nicht vor, weil der Angeklagte angesichts der schriftlichen Urteilsgründe des Amtsgerichts Bückeburg und der darin nicht nur formelhaft begründeten Bewährungsentscheidung nicht mit einem Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe aus dem früheren Urteil habe rechnen müssen. Dem ist das OLG entgegengetreten: Denn maßgeblich für die Frage, ob ein Fall des § 140 Abs. 2 StPO vorliegt, ist allein der Zeitpunkt der Hauptverhandlung und der dort abgegebenen Rechtsmittelverzichtserklärung. Im vorliegenden Fall war dem Beschuldigten schon deshalb ein Verteidiger beizuordnen, weil erhebliche Zweifel an seiner Verteidigungsfähigkeit bestanden. Das OLG weiter:
Denn nach der Rechtsprechung ist in Fällen, bei denen dem Angeklagten – wie hier – ein Betreuer mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt wurde, regelmäßig ein Fall von § 140 Abs. 2 StPO gegeben (KG, Beschluss vom 20.12.2021, Az.: (2) 161 Ss 153/21 (35/21), BeckRS 2021, 43952; OLG Hamm, Beschluss vom 14. 8. 2003 – 2 Ss 439/03, NJW 2003, 3286; LG Magdeburg, Beschluss vom 21. Juli 2022 – 25 Qs 53/22 -, juris; LG Berlin, Beschluss vom 14. Dezember 2015 – 534 Qs 142/15 -, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 140, Rn. 30).
Vorliegend trat kumulativ hinzu, dass sich die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Voraussetzungen von §§ 20, 21 sowie § 64 StGB förmlich aufdrängte, denn das Amtsgericht stellt im Urteil vom 2. November 2022 selbst fest, dass der Angeklagte vor den abgeurteilten Taten 3,5 Liter Bier sowie eine halbe Flasche Wodka konsumiert hatte, hochgradig alkoholabhängig ist, zahlreiche Male strafrechtlich wegen Körperverletzungsdelikten sowie wegen Trunkenheitsfahrten verurteilt wurde und noch bis zum 1. Februar 2022 eine stationäre Alkoholtherapie absolviert hatte. Mithin drohte dem Angeklagten im Falle einer Verurteilung wegen der im hiesigen Verfahren angeklagten Taten nicht nur ein Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten 9-monatigen Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Oldenburg vom 10. September 2020, sondern auch die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB und damit ein weiterer sonstiger schwerwiegender Nachteil, der bei der Prüfung der Voraussetzungen von § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen war (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21; MüKoStGB/van Gemmeren, 3. Aufl. 2016, StGB § 64 Rn. 105; LG Kleve, Beschluss vom 14. November 2014 – 120 Qs 96/14 -, juris).
Nach alledem war der Strafrichter des Amtsgerichts Bückeburg aus Gründen der prozessualen Fürsorgepflicht gehalten, dem Angeklagten von Amts wegen einen Verteidiger beizuordnen, der ihm in der Hauptverhandlung beistehen und mit dem er sich hätte beraten können. Der unmittelbar nach Urteilsverkündung von dem Angeklagten erklärte Rechtsmittelverzicht kann bei Würdigung der Gesamtumstände in der Person des Angeklagten nicht als rechtswirksam erachtet werden. Da der im Protokoll beurkundete Rechtsmittelverzicht mithin der Zulässigkeit des fristgerecht eingelegten Rechtsmittels nicht entgegensteht, war der angefochtene Beschluss aufzuheben.
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