Spezialitätsgrundsatz bei Europäischem Haftbefehl

Spezialitätsgrundsatz: Der Spezialitätsgrundsatz (Art. 14 EurAuslÜbk, § 83h Abs. 1 IRG) spielt im Rahmen des Europäischen Haftbefehls eine erhebliche Rolle. Denn ein erfasst lediglich die im jeweiligen Verfahren gegenständlichen Straftaten.

Nur zur Verfolgung dieser Straftaten ist der Angeklagte, wenn er auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes nicht verzichtet hat, grundsätzlich ausgeliefert worden. Eine Ausnahme läge vor, wenn eine Auslieferungsbewilligung zur Vollstreckung anderer Strafen oder Taten vorläge.

Spezialitätsgrundsatz: Hintergründe

Nach Art. 14 Abs. 1 EuAlÜbk darf der Ausgelieferte wegen einer anderen vor der Übergabe begangenen Handlung als derjenigen, die der zugrunde liegt, nur abgeurteilt werden, wenn der ausliefernde Staat zustimmt (Art. 14 Abs. 1 lit. a EuAlÜbk) oder wenn nach Ablauf der in Art. 14 Abs. 1 lit. b EuAlÜbk genannten Schonfrist die dort genannten Voraussetzungen vorliegen.

Eine „andere Tat“ ist nicht anzunehmen, wenn die Angaben in der Auslieferungsbewilligung und diejenigen im späteren Urteil hinreichend übereinstimmen (BGH, 1 StR 544/09, 1 StR 106/13 und 1 StR 187/23). Der dem Spezialitätsgrundsatz zugrunde liegende Tatbegriff umfasst den gesamten dem ausliefernden Staat mitgeteilten Lebenssachverhalt, innerhalb dessen der Verfolgte eine oder mehrere Straftaten begangen haben soll (BGH, 1 StR 187/23 und 1 StR 152/11).

Zwar sind die Gerichte des ersuchenden Staates im Rahmen dieses historischen Vorgangs nicht gehindert, die Tat in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht abweichend zu würdigen; dies setzt aber voraus, dass auch insoweit Auslieferungsfähigkeit besteht. Eine Änderung der Rechtsauffassung berührt regelmäßig nicht die Souveränitätsinteressen des um Auslieferung ersuchten Staates (BGH, 1 StR 148/11 und 1 StR 544/09).

Für die Wahrung der Tatidentität ist es weder erforderlich, dass der Straftatbestand nach dem Recht des ersuchten Staates seiner Bezeichnung nach mit demjenigen des ersuchenden Staates übereinstimmt, noch kommt es darauf an, dass er in seinen Tatbestandsmerkmalen vergleichbar ist (vgl. auch BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2013 – 1 StR 106/13, BGHSt 59, 105 Rn. 16). Die Rechtmäßigkeit der Auslieferung durch einen anderen Staat ist – verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Oktober 1977 – 2 BvR 631/77, BVerfGE 46, 214, 219) – von den inländischen Gerichten nicht zu überprüfen (vgl. BGH, Urteil vom 16. Januar 1963 – 2 StR 398/62, BGHSt 18, 218, 220).

Nichtbeachtung des auslieferungsrechtlichen Spezialitätsgrundsatzes

Die Nichtbeachtung des auslieferungsrechtlichen Spezialitätsgrundsatzes bewirkt ein Vollstreckungshindernis mit der Folge, dass eine wegen dieses Hindernisses nicht vollstreckbare Strafe auch nicht in eine Gesamtstrafe einbezogen werden darf (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Juni 2014, 1 StR 218/14NStZ 2014, 590; und vom 3. März 2015, 3 StR 40/15 Rn. 5 sowie 5 StR 55/20).

Eine wegen dieses Hindernisses nicht vollstreckbare Strafe darf nicht in eine Gesamtstrafe einbezogen werden (BGH, 3 StR 395/12 und 1 StR 218/14). Auch nicht, wenn diese zur ausgesetzt worden ist (BGH, 5 StR 498/22). Dabei geht es gerade nicht nur um ausländische, sondern eben auch um frühere inländische Verurteilungen!

Zäsurwirkung

Wenn aus den vorstehenden Gründen eine Strafe nicht vollstreckbares und damit nicht in eine Gesamtstrafe einbezogen werden kann, entfaltet sie keine Zäsurwirkung (BGH, 4 StR 345/97 und 1 StR 218/14).

Bewährung

Dies gilt auch, wenn die Vollstreckung einer zur Bewährung ausgesetzt wurde: § 83h Abs. 2 Nr. 3 IRG bestimmt zwar, dass das Verbot des § 83h Abs. 1 IRG nicht gilt, wenn die Strafverfolgung nicht zur Anwendung einer die persönliche Freiheit beschränkenden Maßnahme führt. Wie der aber bereits entschieden hat, greift die Regelung des § 83h Abs. 2 Nr. 3 IRG bei der Einbeziehung einer für sich genommen zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe in eine nicht aussetzungsfähige Gesamtstrafe nicht ein (BGH, 4 StR 303/11).

Spezialitätsgrundsatz bei Europäischem Haftbefehl: Rechtsanwalt Ferner zum europäischen Haftbefehl

Der Spezialitätsgrundsatz bei einem europäischem wirkt auf den ersten Blick gut für Angeklagte, kann aber bei Verurteilungen mehrerer Taten zu unerwünschten Ergebnissen führen, wenn man taktisch unklug agiert!

Denn ungeachtet der teilweise verbleibenden Eigenständigkeit der in eine Gesamtstrafe eingestellten Einzelstrafe würde die Berücksichtigung der selbständig wegen der Geltung des Spezialitätsgrundsatzes nicht vollstreckbaren Einzelstrafe in einer Gesamtstrafe insgesamt zu der Vollstreckung „einer die persönliche Freiheit beschränkenden Maßnahme“ führen, deren Teil die nicht zulässig vollstreckbare Freiheitsstrafe wäre (BGH, 1 StR 218/14). Eine Einbeziehung der fraglichen Einzelfreiheitsstrafe kommt daher erst dann in Betracht, wenn eine Bewilligung durch den ausliefernden Staat, etwa im Rahmen eines Nachtragsersuchens, oder ein Verzicht (§ 83h Abs. 2 Nr. 5 und Abs. 3 IRG) auf die Anwendung des Spezialitätsgrundsatzes seitens des Angeklagten erklärt wird.

Geldstrafe

Ebenso keine Rolle spielt es, wenn die Strafen aus den Strafbefehlen nur Geldstrafen zum Gegenstand hätten; ein Anwendungsfall der Ausnahmeregelung des § 83h Abs. 2 Nr. 3 IRG liegt auch hier unter Berücksichtigung obiger Erwägungen nicht vor (BGH, 4 StR 303/11, 1 StR 218/14 und 5 StR 55/20).

§ 83h Abs. 2 Nr. 3 IRG bestimmt zwar, dass das Verbot des § 83h Abs. 1 IRG nicht gilt, wenn die Strafverfolgung nicht zur Anwendung einer die persönliche Freiheit beschränkenden Maßnahme führt. Die Regelung kann aber bei Einbeziehung einer in eine nicht aussetzungsfähige Gesamtfreiheitsstrafe nicht eingreifen, weil ungeachtet der teilweise verbleibenden Eigenständigkeit der in eine Gesamtstrafe eingestellten Einzelstrafe es insgesamt zur Vollstreckung einer die persönliche Freiheit beschränkenden Maßnahme kommen würde (BGH, 4 StR 303/11). Eine Einbeziehung fraglicher Einzelgeldstrafen kommt erst dann in Betracht, wenn eine Bewilligung durch das ausliefernde Land, etwa im Rahmen eines Nachtragsersuchens, oder ein Verzicht (§ 83h Abs. 2 Nr. 5, Abs. 3 IRG) auf die Anwendung des Spezialitätsgrundsatzes seitens der Angeklagten erklärt würde (BGH, 1 StR 218/14 und 6 StR 48/22).

Nachträgliche Gesamtstrafe immer noch möglich

Sollte aber die bisher durch den Spezialitätsgrundsatz ausgenommene Strafe zu einem späteren Zeitpunkt – etwa nach einem Nachtragsersuchen – vollstreckbar werden, so wären gemäß § 460 StPO aus dieser Strafe und aus den im jeweiligen Verfahren festgesetzten Einzelstrafen (unter Auflösung der Gesamtstrafe) nachträglich neue Gesamtstrafen zu bilden (BGH, 4 StR 345/97, 4 StR 303/11 und 1 StR 218/14).

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften.

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