Mit Urteil vom 6. März 2025 (Az. 206 StRR 433/24) hat das Bayerische Oberste Landesgericht eine gleichermaßen präzise wie wegweisende Entscheidung zur verfassungsrechtlichen Bedeutung der Meinungsfreiheit getroffen.
Im Zentrum stand die Frage, ob die Bezeichnung führender Regierungsmitglieder auf einem Demonstrationsplakat als „Volksschädling“ oder die Verwendung der Formulierung „10-Punkte-Plan zur Volksvernichtung“ den Straftatbestand der Beleidigung erfüllt – oder aber als polemische Kritik unter dem Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG steht. Das Gericht hat dabei nicht nur die Voraussetzungen der Beleidigung (§ 185 StGB), sondern auch die Anforderungen an die neue Fassung des § 188 Abs. 1 StGB (beleidigende Äußerungen gegenüber Personen des politischen Lebens) rechtsdogmatisch und grundrechtlich sorgfältig analysiert.
Hintergrund und Tatgeschehen
Der Angeklagte hatte im Rahmen einer politischen Demonstration ein Plakat mitgeführt, das zentrale Regierungsmitglieder hinter Gitter zeigte. Der Bundeskanzler wurde mit der Überschrift „Volksschädling“ versehen, die Bundesinnenministerin mit der Formulierung „10-Punkte-Plan zur Volksvernichtung“ betitelt – eine offensichtliche Anspielung auf ihr Programm gegen Rechtsextremismus. Die Staatsanwaltschaft sah hierin Beleidigungen bzw. Verleumdungen nach §§ 185, 187, 188 StGB und klagte an. Das Amtsgericht sprach den Angeklagten frei, das Landgericht bestätigte den Freispruch. Gegen dieses Urteil richtete sich die Revision der Staatsanwaltschaft, blieb jedoch ohne Erfolg.
Das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Ehrschutz
Zentrales Element der Entscheidung ist die verfassungsrechtliche Überprüfung, ob die strafrechtliche Qualifikation der Äußerungen als Beleidigung dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit standhält. Das Gericht wiederholt die gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach jede inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Äußerungsgegenstand, jeder wertende Beitrag zur Meinungsbildung, grundsätzlich in den Schutzbereich von Art. 5 GG fällt. Selbst polemische, übersteigerte oder verletzende Äußerungen genießen diesen Schutz – erst wenn sie sich ausschließlich in persönlicher Kränkung erschöpfen oder keinen erkennbaren sachlichen Gehalt mehr enthalten, kann von einer Schmähung gesprochen werden, die außerhalb des Grundrechtsschutzes liegt.
Das BayObLG hebt hervor, dass Gerichte bei mehrdeutigen Äußerungen nicht einfach die ihnen naheliegende oder subjektiv empörendste Deutung zugrunde legen dürfen. Vielmehr müssen sie alle vertretbaren Sinnvarianten prüfen und nur dann verurteilen, wenn sich andere Deutungen mit überzeugender Begründung ausschließen lassen. Im konkreten Fall sah das Gericht in der Bezeichnung „Volksschädling“ nicht notwendig eine menschenverachtende Schmähung, sondern auch eine – wenn auch polemische – Form der Kritik an politischem Handeln. Ähnlich wurde der Begriff der „Volksvernichtung“ im Kontext des tatsächlichen politischen Diskurses gedeutet, etwa als bewusste Umkehrung des ministeriellen Programms gegen Rechtsextremismus.
Dass solche Formulierungen emotional, unsachlich oder sogar geschmacklos wirken mögen, ändere nichts daran, dass sie Teil eines politischen Meinungskampfes seien. Das Gericht verweist ausdrücklich auf die Rolle der Meinungsfreiheit als Voraussetzung und Wesensmerkmal einer freiheitlichen Demokratie – insbesondere dort, wo sie sich gegen staatliche Macht richtet.
§ 188 StGB n.F. im Lichte grundrechtlicher Grenzen
Besonderes Augenmerk widmete das Gericht der Anwendung des § 188 StGB in seiner neuen Fassung, der beleidigende Äußerungen über Personen des politischen Lebens unter bestimmten Voraussetzungen härter sanktioniert. Die Norm verlangt, dass die Äußerung „geeignet ist, das öffentliche Wirken der betroffenen Person erheblich zu erschweren“. Hier widersprach das BayObLG ausdrücklich der früheren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die allein auf den Inhalt der Äußerung abstellte, und schloss sich der neueren Literatur und anderer Obergerichte an, wonach auch Verbreitungsform, Reichweite, Kontext und Zielrichtung entscheidend sind.
Die Bezeichnung eines Politikers als „Volksschädling“ in einem überschaubaren Rahmen einer lokalen Demonstration mit etwa 100 Teilnehmern entfalte nach Auffassung des Gerichts keine Wirkung, die geeignet wäre, das öffentliche Wirken des Bundeskanzlers ernsthaft zu beeinträchtigen. Gerade bei beleidigenden Werturteilen, so die differenzierte Analyse, sei die Gefahr einer sozialen oder medialen „Verselbstständigung“ – anders als bei falschen Tatsachenbehauptungen – deutlich geringer. Werturteile seien erkennbar subjektiv und bedürften stets der Aneignung durch Dritte, um wirksam zu werden. Eine einfache Kontrolle nach dem Maßstab eines verständigen Dritten ergebe daher, dass die hier angegriffene Äußerung trotz Schärfe nicht geeignet war, das Vertrauen in die Integrität oder Lauterkeit des Bundeskanzlers zu erschüttern.
Bedeutung für die Praxis
Die Entscheidung des BayObLG stellt einen wichtigen verfassungsrechtlichen Orientierungspunkt für die Strafjustiz dar. Sie fordert von den Gerichten eine präzise, kontextbezogene Auslegung des Äußerungssinns und verweigert sich der Tendenz, scharfe politische Kritik vorschnell in den Bereich strafbarer Schmähung zu verschieben. Gleichzeitig betont sie, dass § 188 StGB nicht zu einer pauschalen Aufwertung aller beleidigenden Äußerungen gegenüber Politikern führen darf – sondern stets ein „Mehr“ an tatsächlicher Wirkung verlangt, um dem erhöhten Strafrahmen gerecht zu werden.
Die Entscheidung macht deutlich, dass der Schutz des öffentlichen Diskurses keine rein rhetorische Floskel ist, sondern eine rechtlich durchsetzbare Schranke gegenüber dem Strafrecht darstellt. Auch im Spannungsfeld von Respekt, politischer Streitkultur und persönlicher Ehre bleibt die Meinungsfreiheit ein hohes Gut – vorausgesetzt, die Äußerung verliert sich nicht in reiner Herabsetzung, sondern behält erkennbaren Bezug zum öffentlichen Meinungsstreit.
Fazit
In der Quintessenz setzt das BayObLG einen wohltuend klaren Maßstab: Auch polemische, zugespitzte und provozierende Meinungen über Amtsträger sind vom Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit gedeckt, solange sie nicht ausschließlich auf Diffamierung zielen. Strafrichterliche Eingriffe müssen sich an den verfassungsrechtlichen Vorgaben orientieren – und dürfen nicht auf subjektiv empfundener Geschmacklosigkeit oder moralischer Entrüstung basieren. Damit stärkt die Entscheidung nicht nur das Vertrauen in die Justiz, sondern auch die Vitalität des demokratischen Diskurses in einer polarisierten Gesellschaft.
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