Das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) hat in einer richtig spannenden Entscheidung (Beschluss vom 08.05.2024 – 204 StRR 452/23) grundlegende Fragen zum Kunstbegriff, zur politischen Meinungsäußerung in der Kunst, zum Persönlichkeitsrecht und zur Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen in der Kunst behandelt. Diese Entscheidung stellt wichtige Weichen für die Bewertung von Graffiti als Kunstform und deren rechtliche Grenzen dar, ein Kampf der vor Amtsgerichten oft im Sande verläuft, wie auch hier.
Sachverhalt
Worum ging es?
Es ging um die Frage, ob ein Graffiti, das karikaturhaft und satirisch überzeichnet war, um eine kritische Aussage über die Staatsgewalt zu treffen, diverse Straftatbestände verwirklicht hat. Konkret ging es um Beleidigung und die Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole.
Das Graffiti trug die Aufschrift „Liebesgrüße aus Bayern“ und sollte eine Kritik an der Staatsgewalt ausdrücken. Der Angeklagte behauptete, er habe mit diesem Bild seine eigenen Erlebnisse von Polizeigewalt verarbeiten wollen.
Aussehen des Bildes
Der Fall drehte sich um ein Graffiti, das der Angeklagte an eine Feldscheune gesprüht hatte. Dieses Graffiti, das mehrere Meter hoch und breit war, ähnelte einer gemalten Postkarte. Es zeigte eine Person in einer Uniform, die stark an die Uniformen der SS erinnerte. Die Gesichtshälfte der dargestellten Person war zur Hälfte als Totenkopf ausgeführt, was ebenfalls Assoziationen zu den SS-Totenkopfverbänden weckte. Die andere Gesichtshälfte zeigt das Konterfei des bayerischen Ministerpräsidenten.
Ebenso waren auf dem Graffiti zwei kleinere Bilder zu sehen, die Polizisten zeigten, die eine wehrlose Person misshandelten. Die Uniform der dargestellten Person erinnerte wohl sehr stark an die SS-Uniform, einschließlich eines Rangabzeichens eines SS-Sturmbannführers auf dem Kragen und einer Schirmmütze, die das bayerische Wappen und Flügel zeigte. Dass die rechte Gesichtshälfte der Person als Schädel dargestellt war, erinnerte laut Entscheidung ebenfalls stark an das Totenkopfsymbol der SS.
Entscheidungen der Gerichte
- Amtsgericht Nürnberg: Das Amtsgericht Nürnberg verurteilte den Angeklagten in erster Instanz am 28. März 2023 wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 30 Euro. Das Gericht sah die Elemente der SS-Uniform und des Totenkopfs als eindeutige Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation und wertete die Darstellung des bayerischen Ministerpräsidenten als Beleidigung.
- Landgericht Nürnberg-Fürth: Die Berufung des Angeklagten wurde vom Landgericht Nürnberg-Fürth am 13. Juni 2023 als unbegründet verworfen. Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung des Amtsgerichts und führte aus, dass die verwendeten Symbole und die Art der Darstellung eindeutig gegen § 86a StGB und § 185 StGB verstoßen würden. Das Gericht beurteilte das Graffiti als unzulässige Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen und als eine Beleidigung des bayerischen Ministerpräsidenten.
- Bayerisches Oberstes Landesgericht (BayObLG): Auf die Revision des Angeklagten hin hob das BayObLG die Urteile des Landgerichts Nürnberg-Fürth und des Amtsgerichts Nürnberg auf und sprach den Angeklagten frei.
Rechtliche Analyse
Das BayObLG argumentierte, dass das Graffiti durch die Kunstfreiheit gedeckt sei und keine ernsthafte Wiederbelebung oder Verherrlichung der SS beabsichtige.
Das Gericht betonte dabei, dass die satirische und verfremdete Darstellung sowie die künstlerische Absicht des Angeklagten im Vordergrund stünden und daher durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützt seien. Auch die behauptete Beleidigung wurde durch die Kunstfreiheit überlagert, da das Graffiti als kritische Satire zu verstehen sei.
Graffiti als Kunst
Das BayObLG stellte klar, dass Graffiti grundsätzlich Kunst im Sinne des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG darstellt, da es die Gattungsanforderungen der Malerei erfüllt. Selbst bei einer rein formalen Betrachtungsweise handelt es sich um Kunst, wenn das Werk schöpferische Elemente enthält und eine persönliche Erfahrung des Künstlers ausdrückt
Verwendung von Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation in der Kunst
Das Gericht entschied, dass die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen durch die Kunstfreiheit gedeckt sein kann, solange diese im Kontext einer satirischen und verfremdeten Darstellung geschieht und keine ernsthafte Wiederbelebung oder Verherrlichung dieser Organisationen intendiert ist. Die Kunstfreiheit überwiegt hier, solange keine konkrete Gefahr der Wiederbelebung solcher Organisationen besteht
Äußerung politischer Meinung
Auch wenn das Graffiti eine politische Meinung ausdrückt und dabei satirische Elemente verwendet, bleibt es durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützt. Das Gericht betonte, dass die Kunstfreiheit auch dann gilt, wenn das Kunstwerk eine politische Meinung vermittelt, da Kunst und Meinungsäußerung sich nicht ausschließen
Kunst und das Persönlichkeitsrecht der abgebildeten Person
In Bezug auf das Persönlichkeitsrecht der abgebildeten bzw. erkennbare Person des Ministerpräsidenten entschied das BayObLG, dass die Kunstfreiheit vorrangig ist, wenn die Darstellung der Person stark verfremdet und karikaturhaft ist. Solange die Darstellung nicht zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts führt, muss das Persönlichkeitsrecht zurücktreten
Kunst und Beleidigung
Die Entscheidung stellte klar, dass selbst eine beleidigende Darstellung durch die Kunstfreiheit gedeckt sein kann, sofern die Beleidigung nicht im Vordergrund steht und das Kunstwerk eine satirische Kritik darstellt. Das BayObLG entschied, dass im vorliegenden Fall die Kunstfreiheit des Angeklagten überwiegt, da das Graffiti als satirische Kritik an der Staatsgewalt zu verstehen ist und nicht primär eine persönliche Beleidigung darstellt
Ausblick
Die Entscheidung des BayObLG verdeutlicht den hohen Stellenwert der Kunstfreiheit in Deutschland und setzt klare Maßstäbe für die Abwägung zwischen Kunstfreiheit, Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten. Sie stärkt die Position von Künstlern, die Politik und Gesellschaft kritisieren und stellt sicher, dass satirische und verfremdende Darstellungen im Rahmen der Kunstfreiheit geschützt bleiben.
Diese Entscheidung sollte in einer freien Gesellschaft eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein – ist es aber leider nicht, sondern vielmehr ein wichtiger Schritt zur Anerkennung und zum Schutz von Graffiti als legitime Kunstform und Ausdrucksmittel politischer Meinungsäußerung. Wer schon einmal im Bereich der Meinungs- oder Kunstfreiheit vor Amtsrichtern gestanden hat, weiß, dass deutsche Richter den Kern dieser Freiheiten vergessen haben. Nämlich, dass es keine wertvollen und wertlosen Meinungen gibt, sondern dass in einer demokratischen Gesellschaft Meinungen per se schutzwürdig sind. Dazu gehören eben auch „die anderen Meinungen“, die man nicht teilt oder für nicht besonders wertvoll hält.
Gerade im Bereich der Kunstfreiheit, wo man schon über die Mittel des Ausdrucks trefflich streiten kann und wo gerade dieser Streit Ausdruck dessen ist, was Kunst ausmacht, wäre besonderes Fingerspitzengefühl geboten. Besondere richterliche Tiefe ist aber auch hier nicht zu erwarten, wie die ersten beiden Instanzen eindrücklich bewiesen haben.
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