LSG Hessen zur Scheinselbstständigkeit auf dem Bau

Mit Urteil vom 20. Februar 2025 (Az. L 8 BA 4/22) hat das Hessische Landessozialgericht einmal mehr die rechtliche Realität auf deutschen Baustellen in Erinnerung gerufen. Im Zentrum des Verfahrens stand die Frage, ob ein über Jahre hinweg tätiger Bauarbeiter tatsächlich als selbstständiger Unternehmer für ein Bauunternehmen gearbeitet hatte – oder ob es sich um eine verdeckte abhängige Beschäftigung handelte.

Die Antwort des Gerichts fällt eindeutig aus: Die tatsächlichen Arbeitsumstände sprachen mit solcher Klarheit für eine Eingliederung in den Betrieb, dass formale Selbstständigkeitserklärungen nicht ins Gewicht fielen. Die Entscheidung markiert damit einen weiteren Baustein in der arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Dogmatik zur Abgrenzung von Selbstständigkeit und – insbesondere im prekären Umfeld des Baugewerbes.

Der Sachverhalt: Arbeit auf Zuruf, aber ohne Unternehmerfreiheit

Der Kläger, ein Bauunternehmen in der Rechtsform einer , hatte über mehrere Jahre hinweg einen polnischen Bauarbeiter auf Baustellen eingesetzt. Die Einsätze erfolgten über einzelne Aufträge, begleitet von Rechnungsstellungen, wobei der Arbeiter formal ein Gewerbe angemeldet hatte.

Die Tätigkeit umfasste einfache Bauhilfsarbeiten – Schutttransport, Mörtelanrühren, Abrissarbeiten. Die durchweg etwa 7:30 bis 16:30 Uhr, die Arbeitsmittel wurden durch das Unternehmen gestellt. Die Stunden wurden von der Firma kontrolliert, zum Teil sogar die Rechnungen von deren Geschäftsführung oder deren Söhnen vorgefertigt. Der Bauarbeiter sprach kaum Deutsch, hatte kein eigenes Büro, keine nennenswerte unternehmerische Infrastruktur und war – jedenfalls in der Hauptsache – für das klagende Unternehmen tätig. Als es später zu einem kam und Leistungen der Berufsgenossenschaft verweigert wurden, stellte sich die Frage: Lag überhaupt eine selbstständige Tätigkeit vor?

Die rechtliche Würdigung: Die Fiktion der Selbstständigkeit genügt nicht

Das LSG Hessen nimmt eine umfassende Einordnung auf Grundlage der sozialversicherungsrechtlichen Normen (§§ 7, 7a SGB IV) vor. Maßgeblich sei das Gesamtbild der Tätigkeit – und nicht der Parteiwille oder formale Status als Gewerbetreibender. Auch eine Freistellungsbescheinigung oder das Vorliegen eines Gewerbescheins sind allenfalls Indizien, keine entscheidenden Merkmale. Entscheidend ist vielmehr, ob jemand in persönlicher Abhängigkeit handelt – etwa hinsichtlich Ort, Zeit, Inhalt und Art der auszuführenden Tätigkeiten – und ob er in den Betrieb organisatorisch eingegliedert ist.

Im vorliegenden Fall war diese Eingliederung evident: Der Bauarbeiter arbeitete regelmäßig auf den Baustellen des Unternehmens, er war Teil der dortigen Arbeitskette, er erhielt seine Anweisungen vor Ort und führte sie aus. Dass er gelegentlich auch für andere Auftraggeber tätig war, änderte daran nichts – denn dies sei weder quantitativ noch qualitativ von maßgeblichem Gewicht gewesen. Auch die Eigenverantwortlichkeit, die Unternehmer auszeichnet, fehlte: Kein wirtschaftliches Risiko, keine Möglichkeit zur Preisgestaltung, keine Akquise, keine eigene betriebliche Organisation.

Das Gericht geht damit konsequent von der wirtschaftlichen Realität aus – und nicht von der rechtlichen Fiktion. Es weist ausdrücklich darauf hin, dass einfache Hilfstätigkeiten keine funktional selbstständigen Werkleistungen sind und dass die „Weisungsfreiheit“ in solchen Konstellationen häufig nur behauptet, aber tatsächlich nicht gelebt wird.

Zur dogmatischen Einordnung: Der Preis der Subordination

Die Entscheidung steht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Statusfeststellung. Besonders bedeutsam ist der Umstand, dass das LSG klar zwischen dem formalisierten Wunsch der Beteiligten nach einem „freien“ Auftragsverhältnis und der objektiv gelebten Abhängigkeit differenziert. Der bloße Wille, als Selbstständiger gelten zu wollen, sei rechtlich unerheblich, wenn die tatsächlichen Arbeitsbedingungen dem widersprechen. Damit greift das Gericht auch das zentrale Problem der sogenannten Scheinselbstständigkeit auf: die Diskrepanz zwischen äußerlicher Vertragsgestaltung und innerer Arbeitsrealität.

Zugleich stellt das Urteil klar, dass es für eine abhängige Beschäftigung keiner vollständigen Weisungsbindung oder einer durchgehenden Betreuung bedarf. Gerade bei einfach strukturierten Tätigkeiten genüge es, wenn die Arbeit in die Betriebsorganisation eingepasst werde und inhaltlich-funktional der betrieblichen Leistungserbringung diene. Dass der Kläger „keine Aufträge nach außen“ akquirierte und sich selbst nicht als Unternehmer gegenüber Dritten positionierte, bestätigt nur das Bild: Es handelte sich nicht um einen eigenständigen Unternehmer, sondern um einen faktischen ohne arbeitsvertraglichen Schutz.


Ausblick

Die Kernaussage des Urteils lautet: Wer in betrieblicher Abhängigkeit einfache Tätigkeiten ausführt, zu festen Zeiten arbeitet, Anweisungen erhält und keine unternehmerischen Risiken trägt, ist kein Selbstständiger – auch wenn Gewerbeschein, Rechnungen und formale Freistellungen etwas anderes suggerieren.

Das LSG Hessen folgt hier nicht nur der klaren Linie des Bundessozialgerichts, sondern betont auch die Notwendigkeit, strukturelle Scheinselbstständigkeit konsequent aufzudecken. Für Unternehmen bedeutet dies, dass der Gestaltungsspielraum im unteren Tätigkeitsbereich eng ist. Und für Betroffene ist es eine wichtige Erinnerung: Rechtsschutz beginnt nicht mit einem Formular, sondern mit der rechtlichen Einordnung des gelebten Arbeitsalltags.

Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht bei Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf
Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht mit Schwerpunkt Cybersecurity & Softwarerecht. Ich bin zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht und zur EU-Staatsanwaltschaft.Als Softwareentwickler bin ich in Python zertifiziert und habe IT-Handbücher geschrieben.

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