Mindeststrafe bei besonders schwerer Vergewaltigung

BGH zur Tragweite strafschärfender Umstände und gerichtlicher Begründungspflichten bei Vergewaltigung: Der Strafrahmen des § 177 Abs. 6 StGB markiert einen besonders sensiblen Bereich des Sexualstrafrechts: Mit einer Mindestfreiheitsstrafe von zwei Jahren und einer Bandbreite, die bis zu fünfzehn Jahren reicht, konfrontiert er das Gericht mit der Herausforderung, Schuldangemessenheit und gesetzliche Vorgaben in ein nachvollziehbares Verhältnis zu setzen.

Dass gerade bei der Verhängung der Mindeststrafe besondere Sorgfalt geboten ist, zeigt der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 5. März 2025 (Az. 6 StR 508/24). Der 6. Strafsenat hob darin den Strafausspruch eines Urteils des Landgerichts Frankfurt (Oder) auf, weil die Entscheidung zur Strafhöhe bei einer besonders schweren Vergewaltigung trotz erheblicher strafschärfender Umstände nicht tragfähig begründet war.

Die Entscheidung bekräftigt, dass die richterliche Strafzumessung nicht nur Ergebnis, sondern auch Begründungskultur verlangt – insbesondere dann, wenn die gesetzlich vorgesehene Mindeststrafe trotz gravierender Tatumstände ausgesprochen wird.

Der Fall: Gewalt, Demütigung und die Grenze des Milderungsrahmens

Der Angeklagte war vom Landgericht Frankfurt (Oder) wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden. Die Vollstreckung wurde zur Bewährung ausgesetzt. Grundlage war eine Gewalttat im privaten Nahraum: Nachdem die Nebenklägerin – Mutter des gemeinsamen Kindes – eine intime Beziehung mit dem Angeklagten beendet hatte, kam es bei einem Besuchskontakt zu einem massiven Übergriff. Gegen ihren erklärten Willen hielt der Angeklagte sie fest, drang in sie ein, und setzte im weiteren Verlauf einen Handfeger als Tatmittel ein. Die Verletzungen waren erheblich und mussten medizinisch versorgt werden. Das Landgericht erkannte gleichwohl auf einen minder schweren Fall und nahm den Strafrahmen des § 177 Abs. 6 Satz 1 StGB als Maßstab, ohne diesen weiter auszuschöpfen.

Zugunsten des Angeklagten wurden vor allem dessen Geständnis und die bislang fehlende strafrechtliche Vorbelastung gewertet. Belastend hingegen waren nicht nur die Art und Schwere des Tatgeschehens, sondern auch das besonders demütigende Vorgehen sowie das Infektionsrisiko, das der Täter der Nebenklägerin durch die Verwendung des Gegenstandes zumutete. Das Landgericht stellte diese Umstände ausdrücklich fest, verknüpfte sie aber nicht in der gebotenen Tiefe mit der Frage der Strafhöhe.

Der revisionsrechtliche Maßstab: Strafzumessung als strukturierter Entscheidungsprozess

Zwar ist die Strafzumessung ureigene Aufgabe des Tatgerichts. Der BGH greift insoweit nur zurückhaltend ein – doch dort, wo entweder der gesetzliche Rahmen verkannt oder das Abwägungsergebnis in sich nicht stimmig ist, verlangt die Rechtsprechung Korrektur. Die Verhängung einer Mindeststrafe trotz erheblicher Belastungsmomente stellt ein solches Spannungsfeld dar: Sie ist zwar nicht ausgeschlossen, bedarf aber einer besonders sorgfältigen und nachvollziehbaren Begründung. Genau daran fehlte es im vorliegenden Fall.

Der BGH erinnert daran, dass – ebenso wie bei der Verhängung der Höchststrafe – auch die Mindeststrafe eine besonders eingehende Auseinandersetzung mit den für und gegen den Angeklagten sprechenden Umständen erfordert. Das Gericht muss darlegen, weshalb gerade die untere Grenze des Strafrahmens als schuldangemessen erscheint – eine bloße Aufzählung von Milderungsgründen reicht nicht. Vielmehr muss eine wertende Gewichtung erfolgen, die erkennen lässt, dass die Schwere der Tat tatsächlich mit der ausgesprochenen Strafe in Einklang gebracht wurde. Diese argumentative Verknüpfung hat das Landgericht nicht geleistet.

Problematisch ist insbesondere, dass das Gericht ein Regelbeispiel im Sinne des § 177 Abs. 6 Satz 2 StGB bejaht hat, dieses aber nicht in den Kontext der Strafrahmenwahl gestellt hat. Der BGH weist ausdrücklich darauf hin, dass das Vorliegen eines Regelbeispiels regelmäßig der Annahme eines minder schweren Falles entgegensteht. Zwar ist dies nicht zwingend, wohl aber indiziell – und die Entscheidung hätte sich mit diesem Spannungsverhältnis auseinandersetzen müssen. Die unterlassene Auseinandersetzung stellt einen eigenständigen Begründungsmangel dar.

Bewährungsentscheidung trotz erheblicher Tatintensität

Auch die Bewährungsentscheidung steht unter dem Eindruck dieser unzureichenden Abwägung. Zwar äußert sich der Senat nicht ausdrücklich zur Frage der Strafaussetzung – da er allein den Strafausspruch aufgehoben hat –, doch ist absehbar, dass die künftige Strafkammer auch diesen Punkt im Lichte einer höheren Strafhöhe neu bewerten muss. Denn die Bewährung setzt neben einer günstigen Sozialprognose stets auch eine vertretbare Bewertung der Tatschwere voraus – und diese steht hier nunmehr zur Disposition.

Dogmatische Folgerungen: Mindeststrafen als untere Leitplanke, nicht als Freibrief

Die Entscheidung macht klar, dass gesetzliche Mindeststrafen nicht als “automatische Untergrenze” fungieren dürfen, an der sich Gerichte orientieren, um trotz schwerer Tat ein mildes Urteil zu ermöglichen. Vielmehr sind sie als justizieller Orientierungsrahmen zu verstehen, der eine bewusste Auseinandersetzung verlangt. Wer trotz objektiv schwerwiegender Umstände den unteren Rand des Strafrahmens wählt, muss diese Entscheidung nicht nur faktisch, sondern auch normativ rechtfertigen.

Dies ist nicht nur aus systematischen Gründen geboten, sondern auch unter dem Gesichtspunkt des Opferschutzes. Das Urteil zeigt exemplarisch, dass auch im Bereich des Sexualstrafrechts die Anforderungen an richterliche Begründungskultur steigen. Gerade in Fällen, in denen das Opfer besonders entwürdigende Elemente der Tat erdulden musste, ist eine klare Sprache des Rechts gefordert – nicht im Sinne der Strafschärfung um ihrer selbst willen, sondern im Sinne der Glaubwürdigkeit gerichtlicher Autorität.

Der Beschluss ist ein Mahnruf für die Strafgerichte, ihre Argumentationslinien stringenter zu formulieren – und ein Signal an die Öffentlichkeit, dass Mindeststrafen kein Einladung zur verfahrensökonomischen Entschärfung sind, sondern der Beginn einer vertieften richterlichen Verantwortung. Auf der anderen Seite ist es ein Risiko für Angeklagte: Beim Freispruch hört die Verteidigung nicht auf!


Schlussbetrachtung

In der Kernaussage bekräftigt der Bundesgerichtshof, dass auch die Verhängung der gesetzlichen Mindeststrafe bei schwerwiegenden Sexualdelikten einer besonders sorgfältigen Begründung bedarf. Die formale Einhaltung des Strafrahmens genügt nicht – sie muss durch eine konsistente, tragfähige Abwägung getragen sein. Das Urteil setzt ein klares Zeichen gegen pauschalisierte Milde bei erheblicher Tatintensität und verdeutlicht die Notwendigkeit eines inhaltlich überzeugenden Strafmaßes, das dem konkreten Unrecht gerecht wird.

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Rechtsanwalt Jens Ferner ist Spezialist für Strafverteidigung (insbesondere bei Wirtschaftskriminalität wie Geldwäsche, Betrug bis zu Cybercrime) sowie für IT-Recht (Softwarerecht und KI, IT-Vertragsrecht und Compliance) mit zahlreichen Publikationen. Als Fachanwalt für Strafrecht und IT-Recht vertrete ich Mandanten in komplexen Zivil- und Strafverfahren, insbesondere bei streitigen Fragen im Softwarerecht, bei der Abwehr von strafrechtlichen Vorwürfen oder Ansprüchen in der Managerhaftung sowie bei der Einziehung von Vermögenswerten. Mein Fokus liegt auf der Schnittstelle zwischen technischem Verständnis und juristischer Strategie, um Sie in digitalen Fällen und wirtschaftlichen Strafsachen effektiv zu verteidigen und zu beraten.

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