Das Amtsgericht München (853 Ls 467 Js 181486/21, beim BVerfG unter 2 BvL 11/22) hat dem Bundesverfassungsgericht ein Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung vorgelegt, ob der Strafrahmen des § 184b Abs. 1 Nummer 1 StGB, der die Verbreitung, den Erwerb und den Besitz kinderpornografischer Inhalte mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren ahndet, verfassungsgemäß ist.
Updates: Inzwischen haben weitere Amtsgerichte, das AG Buchen, mit Beschluss vom 01.02.2023 (AZ 1 Ls 1 Js 6298/21; beim BVerfG 2 BvL 3/23) sowie AG Wuppertal (12 Ls-40 Js 261/22-24/22; BVerfG 2 BvL 15/22) ein Verfahren dem BVerfG vorgelegt.
Die Vorlagen aus München und Wuppertal wurden inzwischen mangels zulässigkeit zurückgewiesen, die aus Buchen ist aber noch anhängig.
Das – zu Recht – emotional extrem besetzte Thema wird in diesem Zusammenhang viele Laien überfordern, da man hier regelmäßig nach „Gefängnisstrafen“ ruft. Allerdings zeigt die Praxis, dass zahlreiche Fälle rein gar nichts damit zu tun haben, was man sich als Laie vorstellt, so fasst das Bundesverfassungsgericht in der Verfahrensmitteilung den zugrunde liegenden Sachverhalt wie folgt zusammen:
Der Vorlage des Amtsgerichts München liegt der Fall zugrunde, dass ein achtjähriges Mädchen ein Bild ihrer Vagina an eine Schulkameradin über einen privaten Schülerchat übersandte. Die Mutter der Schulkameradin – und Angeschuldigte – erlangte Kenntnis davon und stellte dieses Bild in die Eltern-WhatsApp-Chatgruppe, um auf den Vorfall aufmerksam zu machen und die anderen Eltern zu warnen. Das Amtsgericht München ist der Ansicht, dass die Hochstufung der Verbreitung kinderpornographischer Schriften zu einem Verbrechen ohne die Regelung eines minder schweren Falls das Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG unverhältnismäßig einschränke, gegen das Schuldprinzip aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verstoße und durch die berufsrechtlichen Konsequenzen einer Freiheitsstrafe von über einem Jahr das Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verletze.
BVerfG; 2 BvL 11/22
Tatsächlich sind eine Vielzahl der Fälle in unserer Kanzlei im Zusammenhang mit minderjährigen Handelnden oder auch passiven Mitgliedern harmloser WhatsApp-Gruppen zu verzeichnen, die aufgrund böswilliger Akteure in Ermittlungsverfahren gezwungen werden. Insbesondere – auch diesen Fall hatten wir kürzlich – wenn jemand als Zeuge mit einem solchen erhaltenen Bild zur Polizei geht, steht ein strafbarer Besitz im Raum.
Es ist zu empfehlen, für weitere Beispiele und die umfangreiche Kritik (auch von Strafverfolgern!) den Beschluss des AG München zu lesen. Der hier agierende Richter ist dabei nicht nur seit vielen Jahren in diesem Bereich tätig, sondern war Sachverständiger im Rechtsausschuss des Bundestages zum Sexualstrafrecht. Das Problem ist, dass wegen der Hochstufung zum Verbrechen jegliche ökonomische Lösung, etwa über Einstellungen, von Gesetzes wegen schon unmöglich sind, so dass man bei den Fällen, die Laien nicht kennen und die nichts mit der allgemeinen Vorstellung dieser Taten zu tun haben, weder Einstellungen noch herabgestufte Strafrahmen (minder schwerer Fall) zur Verfügung stehen hat.
Wie soll man damit umgehen? Die Frage stellt sich für Strafverteidiger und Richter gleichermaßen. Nach hiesiger Auffassung ist das notwendige Augenmaß geboten: In atypischen Fällen sollte unter Hinweis auf diesen Beschluss und die laufende Normenkontrolle beim BVerfG auf eine Aussetzung gedrängt werden. Gerade in Ermittlungsverfahren, die in diesen Fällen ohnehin inzwischen absurd lange laufen, ist hier viel Boden gutzumachen – andersherum sollte genau darauf geachtet werden, ob es wirklich ein atypischer Fall ist, den man auch argumentativ begründen kann. Es bleibt zu hoffen, dass das BVerfG hier schneller agiert als derzeit zu beobachten.
Hinweis für die Strafjuristen: Auch wenn vordergründig die Frage der Nichtexistenz eines minder schweren Falls thematisiert ist, muss in Erinnerung gerufen werden, dass es im ersten Schritt um die Angemessenheit des Strafrahmens insgesamt geht! Das BVerfG kann zur Notwendigkeit eines minder schweren Falls nur gelangen, wenn vorher die Unangemessenheit des Strafrahmens insgesamt bejaht wird – damit ist aber die Frage der Strafzumessung selbst in den Fällen berührt, in denen gar kein minder schwerer Fall im Raum steht. Es ist also aus anwaltlicher Vorsicht anzumahnen, sämtliche Fälle möglichst in die Länge zu ziehen und auch in die Revision zu schicken.
- Justizminister wünschen allgemeine Autoschlüssel-Kopie für Ermittler - 7. Dezember 2024
- KCanG: BGH zur Zusammenrechnung von Freimengen - 5. Dezember 2024
- BVerfG zu Encrochat: Keine generellen Beweisverwertungsverbote - 5. Dezember 2024