BGH zur Auslegung des § 23 ArbNErfG: Das Arbeitnehmererfindungsgesetz (ArbNErfG) regelt den heiklen Grenzbereich zwischen privater Kreativität und dienstlich genutztem Innovationspotenzial. Arbeitnehmer, die während ihrer Tätigkeit Erfindungen machen, haben Anspruch auf eine angemessene Vergütung – doch wie lässt sich diese bestimmen?
Und was geschieht, wenn eine einmal getroffene Vereinbarung sich im Nachhinein als deutlich unausgewogen erweist? Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich in seinem Urteil vom 12. November 2024 (X ZR 37/22) mit der Unwirksamkeit überhöhter Vergütungsvereinbarungen auseinandergesetzt – und dabei zentrale Fragen zur Auslegung des § 23 Abs. 1 ArbNErfG beantwortet.
Sachverhalt
Ein promovierter Chemiker war zwischen 2007 und 2018 bei der Beklagten im Bereich Forschung und Entwicklung tätig. Gemeinsam mit Kollegen war er an drei patentierten Erfindungen beteiligt. Für die Vergütung wurde zunächst ein Modell übernommen, das auf einer älteren Vereinbarung von 1993 basierte: 3 % des Nettoerlöses bis zu 500.000 €, danach 1,5 % – jeweils auf den Miterfinderanteil bezogen.
Diese Regelung wurde über Jahre angewendet. Ab 2017 wich die Beklagte von dieser Praxis ab, führte einen Anteilsfaktor ein und reduzierte die Lizenzsätze. Der Kläger verlangte Zahlung der ursprünglich höheren Beträge – das Landgericht gab ihm recht, das Berufungsgericht wies die Klage wegen „Unbilligkeit“ der alten Vereinbarung ab. Der BGH hob diese Entscheidung nun auf.
Rechtliche Analyse
1. Unwirksamkeit nach § 23 ArbNErfG – auch zugunsten des Arbeitgebers
Der BGH stellt klar: Auch ein Arbeitgeber kann sich auf § 23 Abs. 1 ArbNErfG berufen, wenn eine Vergütungsregelung in erheblichem Maße unbillig ist. Eine solche Unbilligkeit kann sowohl in einer zu niedrigen als auch in einer überhöhten Vergütung liegen.
Diese Auslegung stützt sich auf:
- den Wortlaut des Gesetzes, der keine einseitige Benachteiligung voraussetzt,
- den Gesetzeszweck, der auf Ausgleich zwischen beiden Seiten zielt,
- und die historische Entstehungsgeschichte, in der bewusst ein symmetrischer Schutz beider Parteien vorgesehen wurde.
2. Maßstab: Objektives Missverhältnis
Die Rechtsprechung der Schiedsstelle wird durch den BGH übernommen: Ein objektives Missverhältnis wird in der Regel bei mehr als doppelter Abweichung von der nach den Richtlinien berechneten Vergütung angenommen.
Im vorliegenden Fall war die ursprünglich vereinbarte Vergütung zwar formal „zu hoch“. Jedoch:
- wurden bei der Bewertung nicht alle relevanten Faktoren einbezogen, etwa Staffelungen oder zu erwartende Umsätze;
- war die Vergütungsregelung über Jahre gelebte Praxis, was Treu und Glauben eine bedeutende Rolle zuweist;
- hatte der Arbeitgeber trotz Kenntnis der vermeintlichen Überkompensation die alte Vergütung fortgeführt.
3. Abwägung aller Umstände
Besonders betont der BGH: Die Feststellung eines erheblichen Missverhältnisses bedarf einer Gesamtwürdigung:
- Welche Lizenzsätze und Umsätze wurden erwartet?
- Welche Staffelungen wurden vereinbart?
- Wie lange wurde die Regelung praktiziert?
- Lag ein einseitiger Vorteil vor oder handelte es sich um eine einvernehmliche Festsetzung?
Das Berufungsgericht hatte wesentliche dieser Umstände nicht berücksichtigt. Insbesondere hatte es die tatsächliche Umsatzverteilung und die konkrete wirtschaftliche Relevanz der Staffelung unzureichend gewürdigt. Der BGH rügte die fehlende Gesamtbetrachtung und verwies die Sache zurück.
Die Entscheidung des X. Zivilsenats führt vor Augen: § 23 ArbNErfG ist kein Hebel zur einseitigen Korrektur wirtschaftlich ungünstiger Vereinbarungen, sondern ein rechtsstaatlich balanciertes Korrektiv gegen grobe Schieflagen. Arbeitgeber wie Arbeitnehmer sind gleichermaßen gehalten, transparente, realitätsnahe und nachvollziehbare Vergütungsmodelle zu wählen – und diese regelmäßig zu überprüfen. Wer sich auf eine langjährig praktizierte Regelung verlässt, muss sich auch an deren wirtschaftlicher Entwicklung messen lassen.
Ergebnis
Der BGH bekräftigt mit seiner Entscheidung den hohen Maßstab für die Unwirksamkeit von Vergütungsvereinbarungen bei Arbeitnehmererfindungen: Eine abstrakte Überschreitung der Richtlinienwerte allein genügt nicht. Entscheidend ist stets eine kontextbezogene, wirtschaftlich begründete Abwägung, die auch die Interessenlage beider Parteien, die Entstehungsgeschichte der Regelung und ihre gelebte Anwendung einbezieht.
Das Urteil ist auch deshalb bemerkenswert, weil es das Spannungsfeld zwischen unternehmerischer Freiheit, vertraglicher Bindung und gesetzlicher Schutzpflicht für Arbeitnehmerinnovationen deutlich konturiert.
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